Keine Angst mehr vor dem nächsten Anfall: Expertenrat zum Leben mit Epilepsie

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(pr|nrw) Wie der Blitz aus heiterem Himmel entzieht ein epileptischer Anfall den Betroffenen die Kontrolle über ihren Körper. Dieser Kontrollverlust und die Angst davor sind die Gründe, warum Menschen mit Epilepsie ihre Krankheit oft verheimlichen und über die Krankheit nur wenig gesprochen wird. Dabei zählt die Epilepsie zu den häufigeren neurologischen Erkrankungen: Etwa jeder Zehnte erlebt im Laufe seines Lebens einen epileptischen Anfall, eine behandlungsbedürftige Epilepsie entwickeln nach Schätzungen der Deutschen Gesellschaft für Neurologie drei bis vier von 100 Menschen. Die meisten von ihnen können frei von Anfällen leben – vorausgesetzt, sie erhalten eine individuell abgestimmte Therapie. Welche Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen und wie man ein möglichst „normales“ Leben mit Epilepsie führen kann – dazu informierten Experten am Lesertelefon. Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Nachlesen:

Symptome, Diagnose, Therapie

Vor zwei Wochen konnte ich mich plötzlich kaum bewegen, nahm alles nur verschwommen wahr und konnte auch nicht sprechen. Nach höchstens einer Minute war alles vorbei, ich fühlte mich aber ziemlich gerädert. Bisher habe ich mich damit nicht zum Arzt getraut. Könnte das ein epileptischer Anfall gewesen sein?

Dr. Lothar Burghaus: Das ist möglich, aber die geschilderten Symptome können auch andere Ursachen haben. Sie sollten auf jeden Fall schnellstmöglich einen Neurologen aufsuchen, der Erfahrung in der Behandlung von Epilepsie hat. Schildern Sie ihm genau, unter welchen Umständen es zu der Situation kam. Bei Verdacht auf einen epileptischen Anfall können spezielle Untersuchungen weiteren Aufschluss geben. Dazu zählen apparative Untersuchungen wie ein EEG (Elektroenzephalogramm), ein CT (Computertomographie) oder eine MRT (Magnet-Resonanz-Tomographie) sowie laborchemische Untersuchungen, zum Beispiel des Bluts.

Bedeutet ein einzelner Anfall schon, dass es sich um eine Epilepsie handelt?
Dr. Lothar Burghaus: Viele Menschen haben im Laufe ihres Lebens einen epileptischen Anfall – und bei diesem einen bleibt es auch. Er wurde möglicherweise durch äußere Faktoren ausgelöst. Meidet man den Auslöser, kommt es auch zu keinem weiteren Anfall. Epilepsie bedeutet, dass auf Dauer ein Risiko für weitere Anfälle besteht. Um dies herauszufinden, ist eine spezielle neurologische Diagnostik notwendig, wie sie in Epilepsie-Zentren oder bei spezialisierten Neurologen durchgeführt wird.

Ist Epilepsie heilbar?
Dr. Lothar Burghaus: Nein, aber die „Bereitschaft“ des Gehirns zu epileptischen Fällen kann so gut behandelt werden, dass sie nicht höher ist als bei allen anderen Menschen. Die Reduzierung der Anfallsbereitschaft bedeutet für den größten Teil der Patienten eine lebenslange medikamentöse Therapie. In einzelnen Fällen können die Medikamente schrittweise immer weiter reduziert werden, bis sie schließlich abgesetzt werden können. Trotzdem: Ein erneuter Anfall ist damit nicht grundsätzlich ausgeschlossen.

Wie stehen die Chancen, anfallsfrei zu leben?
Dr. Lothar Burghaus: Ungefähr sieben von zehn Patienten können wir heute so gut behandeln, dass sie auf Dauer ohne epileptische Anfälle leben. In den meisten anderen Fällen können wir zumindest die Häufigkeit und den Schweregrad der Anfälle reduzieren.

Wovon hängt die Erfolgsaussicht ab?
Dr. Lothar Burghaus: Davon, wie gut die medikamentöse Therapie anschlägt. Da sich Epilepsien in Bezug auf die betroffene Hirnregion, die Ursache und Anfallshäufigkeit sowie weitere Faktoren unterscheiden, ist die Wahl des Medikaments entscheidend für den Behandlungserfolg. Wir können heute ungefähr 60 bis 65 Prozent der Patienten mit einer Monotherapie, also einem einzigen Medikament, zu einem anfallsfreien Leben verhelfen. Ein kleinerer Teil der Patienten benötigt unter Umständen auch eine Kombinationstherapie mit mehreren Medikamenten.

Bei mir hat die Therapie nicht auf Anhieb funktioniert. Nun soll ein zweites Präparat eingesetzt werden. Worauf kommt es dabei an?
Dr. Lothar Burghaus: Kurz gesagt darauf, die richtige Balance zwischen Wirksamkeit und Verträglichkeit zu finden. Das gelingt manchmal nicht beim ersten Versuch. Neben den genannten Faktoren beziehen wir die Lebenssituation des Patienten sowie etwaige andere Erkrankungen und Medikamente mit ein. Nicht zuletzt kommt es auf das Verträglichkeitsprofil des Medikaments an. Denn die verschiedenen Antiepileptika können unterschiedliche Nebenwirkungen mit sich bringen.

Welche Nebenwirkungen sind das?
Dr. Lothar Burghaus: Typische Nebenwirkungen, die bei allen Medikamenten auftreten, gibt es nicht. Vielmehr hat jedes Präparat spezifische Nebenwirkungen, die von Patient zu Patient unterschiedlich stark oder schwach auftreten können. Grundsätzlich unterscheiden wir temporäre Nebenwirkungen, die sich während der Einstellung der Medikation zeigen, und langfristige Nebenwirkungen. Kommt es langfristig zu Einschränkungen des Denkens, der Erkennung und der Wahrnehmung, müssen Patienten das nicht hinnehmen und sollten eine Umstellung der Therapie mit ihrem Arzt besprechen.

Wie lange dauert es, bis eine Therapie anschlägt?
Dr. Lothar Burghaus: Es kann im Einzelfall Wochen bis Monate dauern, bis eine individuell passende medikamentöse Therapie gefunden ist. Auf diesem Weg ist es wichtig, nicht die Geduld zu verlieren. Glücklicherweise erlauben moderne Antiepileptika, schneller und ohne langwierige schrittweise Aufdosierung in die Therapie einzusteigen. Lassen sich Medikamente bei guter Verträglichkeit und hohem Anfallsschutz zudem einfach einnehmen, verbessert dies die Therapietreue und damit den Erfolg der Behandlung.

Gibt es Fälle, in denen Medikamente nicht helfen?
Dr. Lothar Burghaus: In einzelnen Fällen bringen Medikamente tatsächlich keine Linderung der Anfälle. Sind zudem alle ergänzenden Therapieangebote ausgeschöpft, zum Beispiel zur Behandlung von psychischen Störungen oder Schlafstörungen, kann bei manchen Betroffenen ein chirurgischer Eingriff in Erwägung gezogen werden.

Leben mit Epilepsie

Ich habe große Angst, dass es wieder zu einem schweren Anfall kommt – und diese Angst verunsichert mich zusätzlich. Was kann ich tun?
Anja Zeipelt: Diesen Teufelskreis aus Angst und zunehmender Verunsicherung erleben viele Betroffene. Wichtig ist, dass Sie mit Ihrer Befindlichkeit nicht alleine bleiben. Beziehen Sie Ihr Umfeld ein, informieren Sie Familie, Freunde und Bekannte über Ihre Erkrankung. Damit erobern Sie ein Stück Normalität zurück und können weniger „verkrampft“ mit Ihrer Epilepsie umgehen. Vielleicht hilft Ihnen der Kontakt zu anderen Epilepsie-Patienten. Der Austausch zeigt Ihnen, dass Sie nicht allein sind. Und das kann enorm stärken! Adressen gibt es z. B. bei der Deutschen Epilepsie-Vereinigung (www.epilepsie-vereinigung.de) oder unter www.epilepsie-gut-behandeln.de .

Medikamente sind die eine Sache – aber was kann ich selbst tun, um Anfälle möglichst zu vermeiden?
Anja Zeipelt: Vor allem können Sie versuchen, „Ihre“ Epilepsie so gut wie möglich zu verstehen. Jede Epilepsie ist anders, hat andere Auslöser und Umstände, die einen Anfall begünstigen oder verhindern helfen. Eine gute Hilfe ist ein so genanntes Epilepsie-Tagebuch, in dem Sie all das aufzeichnen, was Ihnen Hinweise auf Entstehungsmuster geben kann. Wenn Sie Ihre persönlichen Auslöser kennen, brauchen Sie Ihr Leben nicht nach einer langen Liste von „Vielleicht-Auslösern“ auszurichten. Auch das bringt wieder ein Stück mehr Normalität und Entspannung. Ansonsten hilft alles, was Sie „ent-spannt“ – von speziellen Entspannungstechniken über Hobbys bis zu geeigneten Sportarten.

Was genau soll ich in einem Epilepsie-Tagebuch aufzeichnen?
Anja Zeipelt: Alles, was rund um den Anfall geschieht: Was haben Sie in welcher Menge getrunken? Welchen Tätigkeiten sind Sie nachgegangen? Wie war die Schlafqualität? Gab es Stress? Wann haben Sie welche Medikamente eingenommen? Gab es besondere Ereignisse? Allergien, Infekte, Regelblutung, körperliches und psychisches Wohlbefinden – alles, was Hinweise auf Anfallsmuster liefern kann, sollten Sie notieren. So lernen Sie nicht nur Ihre Epilepsie, sondern auch sich selbst ein Stück besser kennen. Einen guten Einstieg mit vielen Zusatzfunktionen bietet die App Epi-Manager des Biopharmaunternehmens UCB. Wer detaillierter dokumentieren möchte, kann eine kostenlose Vorlage auf www.epilepsie-gut-behandeln.de herunterladen.

Gibt es geeignete Vorsichtsmaßnahmen für einen Anfall?
Anja Zeipelt: Vor allem sollten die Menschen in Ihrem Umfeld über Ihre Krankheit Bescheid wissen, damit sie bei einem Anfall adäquat reagieren können. Mir hat zudem ein persönlicher „Risikenplan“ sehr geholfen, den ich nach Auswertung meines Epilepsie-Tagebuchs zusammengestellt habe. Eventuell kann der behandelnde Arzt dabei auch unterstützen. So ein Plan geht viel besser auf die individuellen Umstände ein als eine Liste mit pauschalen Ge- und Verboten.

Kann Anstrengung, etwa beim Sport, Anfälle begünstigen?
Anja Zeipelt: Das hat man lange Zeit gedacht. Heute wissen wir, dass Bewegung und Sport ausgleichend und entspannend wirken – und damit Anfälle kontrollieren helfen. Allerdings hängt die Wahl der passenden Sportart von der Art und Intensität der Anfälle ab – Stichwort „Verletzungsrisiko“. In manchen Fällen ist es ratsam, Sport in Begleitung zu betreiben oder eine Alternative zu einer risikointensiven Sportart zu suchen.

Darf ich mit der Diagnose „Epilepsie“ Auto fahren?
Anja Zeipelt: Wenn keine Anfallsfreiheit besteht, spricht der behandelnde Arzt ein medizinisch begründetes Fahrverbot aus. Das heißt, dass Sie dann kein Auto fahren dürfen! Übrigens gilt ein vorübergehendes Fahrverbot auch bei einer Tablettenumstellung. Sind Sie allerdings anfallsfrei, sollten Sie das Thema mit Ihrem Arzt besprechen. Er kann in genauer Kenntnis Ihrer Erkrankung und Medikation entscheiden, ob Sie Auto fahren dürfen. Wenn ein Patient über einen längeren Zeitraum – in der Regel ein Jahr – anfallsfrei ist und keine medizinischen Gründe dagegensprechen, kann der behandelnde Arzt das Fahrverbot aufheben. Der Arzt ist dabei an die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung des Bundesverkehrsministeriums gebunden, die Sie auf der Website des Bundesamts für Straßenwesen unter www.bast.de einsehen können. Ich denke, dass jeder Epilepsie-Patient grundsätzlich so verantwortungsvoll mit seiner Erkrankung umgehen sollte, dass er weder sich noch andere gefährdet.

Ich wüsste gerne, wie ich mich verhalten soll, wenn jemand einen epileptischen Anfall hat…
Anja Zeipelt: Sorgen Sie zunächst dafür, dass sich der Betroffene nicht verletzen kann, indem Sie Gegenstände aus seiner unmittelbare Nähe entfernen. Legen Sie ihm etwas Weiches unter den Kopf und lassen Sie ihn ansonsten in Ruhe. Schicken Sie Gaffer weg und beobachten Sie den Betroffenen genau. Meist dauert ein Anfall nicht länger als drei bis fünf Minuten. Dauert es länger, läuft der Betroffene blau an, ist es ein erstmaliger Anfall oder kommt es zu einer Serie von Anfällen, rufen Sie die Notrufnummer 112. Ist der Anfall vorbei, bringen sie den Betroffenen in die stabile Seitenlage, sprechen Sie beruhigend mit ihm und stehen Sie später bei Bedarf für eine Schilderung des Anfalls zur Verfügung.

Die Experten am Lesertelefon waren

• Priv.-Doz. Dr. med. Lothar Burghaus; Facharzt für Neurologie und Chefarzt der Klinik für Neurologie im Heilig-Geist-Krankenhaus in Köln
• Anja Daniel-Zeipelt; Epilepsie-Patientin, Autorin mehrerer Bücher zum Thema Epilepsie, Leun bei Wetzlar

Autor:

Havva Keskin aus Bretten

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