„Unter vier Millimetern wird es kritisch!“ - Expertentipps rund um den Winterreifen
Seit fast sechs Jahren regelt in Deutschland eine „situative Winterreifenpflicht“, wann Autofahrer mit Winterreifen unterwegs sein müssen. Bei Glatteis, Schneeglätte, Schneematsch, Reif- oder Eisglätte sind Reifen Pflicht, die das M+S-Symbol tragen. Doch Klarheit hat die Regelung nicht geschaffen – viele Fragen bleiben offen. Reicht das M+S-Symbol als Kriterium für einen Winterreifen? Wann ist der richtige Zeitpunkt für den Wechsel? Welcher Reifen eignet sich für welche winterlichen Bedingungen? Spätestens die Diskussion um Ganzjahresreifen hat dem Thema neue Aktualität verschafft. Tipps für einen rutschfreien Autowinter gab es bei den Experten am Lesertelefon.
Deutschland (pr-nrw)
Im vergangenen Jahr hatten wir Temperaturen von über zehn Grad bis in den Dezember hinein. Warum soll ich die Sommerreifen schon vorher wechseln?
Sandra Demuth, DVR: Tatsächlich war es im letzten Jahr zu Beginn des Winters tagsüber häufig relativ warm. Doch gerade in den frühen Morgenstunden, abends und nachts waren allerdings niedrige Temperaturen zu verzeichnen. Damit einher gehen Reifglätte und Bodenfrost – das sind Situationen, in denen Winterreifen die richtige Wahl sind. Im Gegensatz zu Sommerreifen ist die Laufstreifenmischung von Winterreifen auch bei niedrigen Temperaturen noch flexibel, sodass Winterreifen griffig bleiben und sich optimal verzahnen. Die Gummimischung von Sommerreifen dagegen verhärtet bei winterlichen Temperaturen und bietet nicht mehr den erforderlichen Grip.
Meine Winterreifen sind jetzt sieben Jahre alt, haben aber noch reichlich Profil. Meine Werkstatt sagt, ich brauche neue Reifen…
Christian Koch, DEKRA: Grundsätzlich gibt es keine gesetzliche Altersobergrenze für Reifen. Aber: Reifen bestehen aus dem Naturprodukt Kautschuk – und der altert und wird spröde, selbst wenn die Reifen nur lagern. Deshalb sollten Reifen möglichst nicht älter als zehn Jahre sein. Es kommt jedoch vor, dass sie schon früher altern oder Schäden aufweisen. Fragen Sie ihre Werkstatt, warum genau sie den Austausch empfiehlt – und vertrauen Sie dem Urteil der Fachleute.
Meine Sommerreifen darf ich bis 1,6 Millimeter Profil „runterfahren“. Wie sieht es bei Winterreifen aus?
Annabel Brückmann, ACV: Tatsächlich beträgt die gesetzlich vorgeschriebene Mindestprofiltiefe auch für Winterreifen 1,6 Millimeter. Aber: Schon unter vier Millimetern wird es bei Winterreifen kritisch! Denn unter diesem Wert schwinden die Lamellen, die für die Verzahnung mit der Fahrbahn sorgen – der Reifen verliert dann dramatisch an Sicherheit.
Kann ich einen Reifen mit M+S-Symbol unbesehen kaufen?
Stefan Ehl, KÜS: Nein – obwohl der Gesetzgeber das M+S-Symbol als Mindestanforderung an einen Winterreifen stellt, sagt es wenig über die Qualität des Reifens aus. Es empfiehlt sich, auf das Schneeflockensymbol zu achten, da es sich im Gegensatz zum M+S-Symbol auf ein Prüfverfahren bezieht, das winterliche Witterungsbedingungen in Praxistests berücksichtigt.
Aktuell wurden Reifen nicht in der Größe getestet, die ich benötige. Kann ich alte Testergebnisse heranziehen? Oder mich an Reifen in einer anderen Größe orientieren?
Gert Schleichert, ACE: Schauen Sie zuerst nach, ob der Reifen nicht bei einem anderen Prüfinstitut, einer Verbraucherschutzorganisation oder einem Automobilclub getestet wurde. Ist das nicht der Fall, können Sie getrost auf einen Reifen zurückgreifen, der in der Saison zuvor gut getestet wurde. Grundsätzlich kann auch ein in einer anderen Dimension getesteter Reifen eine Referenz für Ihre Größe sein.
Ich wohne im Flachland, fahre einen Kleinwagen mit Fronantrieb. Reicht da nicht ein Ganzjahresreifen?
Axel Kühne, Vergölst: Dem Gesetzgeber reicht ein Ganzjahresreifen, sofern er das M+S-Symbol aufweist. Wegen der schlechteren Wintereigenschaften sollten Sie Ganzjahresreifen aber nur dann einsetzen, wenn Sie bei Schnee und Eis auf Ihr Auto wirklich verzichten und Fahrten in Regionen mit erwartbar winterlichen Bedingungen ausschließen können.
Was unterscheidet Winterreifen und Sommerreifen von Ganzjahresreifen?
Jürgen Eigenbrodt, Nexen Tire: Winter- und Sommerreifen sind Spezialisten auf ihrem jeweiligen Gebiet – der Ganzjahresreifen ist ein Generalist. Das bedeutet aber, dass man Kompromisse machen muss: Ganzjahresreifen unterliegen einem höheren Verschleiß, sind bei winterlichen Extremverhältnissen überfordert und schneiden unter Umständen bei den für das Reifenlabel relevanten Werten schlechter ab. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch aktuelle Reifentests.
Bei uns ist weniger mit Schnee, dafür aber mit Reifglätte und Glatteis zu rechnen. Kann ich das bei der Reifenwahl berücksichtigen?
Norbert Allgäuer-Wiederhold, Pirelli: Wenn Sie eher mit Glatteis rechnen müssen, sollten Sie einen Reifen wählen, der eine hohe Lamellendichte aufweist, damit er das durch Druck und Reibung entstehende Schmelzwasser gut aufnimmt und ableitet. Bei Schnee oder Schneematsch ist ein Profil mit großen Zwischenräumen zwischen den Stollen vorzuziehen, damit die Verzahnung mit dem Untergrund gewährleistet ist.
Markenreifen sind durchweg teurer als No-Name-Reifen. Aber sind sie auch besser?
Christian Koch, DEKRA: Ein guter Reifen muss verschiedene, oft sich widersprechende Eigenschaften erfüllen, zum Beispiel Nassgriff, Rollwiderstand und Laufleistung. Den optimalen Kompromiss zu finden, bedarf eines hohen Aufwands in Forschung und Entwicklung. Aktuelle Ergebnisse von Reifentests zeigen erneut, dass Markenhersteller die verschiedenen Anforderungen besser unter einen Hut bringen.
Verbraucht mein Auto mit Winterreifen mehr Sprit?
Axel Kühne, Vergölst: Der Winterreifen weist bauartbedingt gegenüber dem Sommerreifen einen leicht höheren Rollwiderstand auf. Allerdings werden Sie den Unterschied in der Praxis kaum bemerken – andere Faktoren wie zum Beispiel Gegenwind haben einen höheren Einfluss auf den Kraftstoffverbrauch.
Ich will erstmals nach Österreich zum Wintersport – welche Regelungen gelten dort?
Annabel Brückmann, ACV: Dort gilt wie in Deutschland eine situative Winterreifenpflicht, aber in Kombination mit einem festgelegten Zeitraum: Zwischen dem 1. November und dem 15. April müssen Sie in Österreich bei Schnee und Eis mit Winter- oder Ganzjahresreifen fahren, die mindestens vier Millimeter Profiltiefe aufweisen.
Meine Winterreifen sind bis auf drei Millimeter Profil abgefahren. Kann ich die Reifen noch über den Sommer nutzen?
Gert Schleichert, ACE: Das ist aus mehreren Gründen keine gute Idee, obwohl die Profiltiefe nach dem Gesetz ausreichend wäre: Erstens sind die Bremswege von Winterreifen im Sommer bauartbedingt länger als die von Sommerreifen. Zweitens machen die weichere Gummimischung und die Lamellen den Winterreifen bei höheren Temperaturen instabil und können für mehr Verschleiß sorgen. Und drittens kann dieser erhöhte Verschleiß auch zu einem höheren Kraftstoffverbrauch führen.
Muss ich für einen Satz Winterreifen immer ein Reifendruck-Kontrollsystem anschaffen?
Norbert Allgäuer-Wiederhold, Pirelli: Nicht unbedingt. Es kommt darauf an, welche Art von RDKS Ihr Fahrzeug hat. Bei einem direkten System sitzt ein Sensor auf der Felge – in diesem Fall müssen Sie einen zweiten Satz Sensoren anschaffen. Das kostet zwischen 100 und 200 Euro für den kompletten Satz. Ist das Auto mit einem indirekten System ausgerüstet, ist es nicht erforderlich, ein zweites System anzuschaffen, da die Messwerte nicht im Rad selbst ermittelt werden. Allerdings müssen die neuen Reifen auf das Fahrzeug kalibriert werden, damit das RDKS akkurat funktioniert.
Ich nutze oft Carsharing-Fahrzeuge. Da kümmert sich doch der Anbieter um die wintertaugliche Bereifung, oder?
Sandra Demuth, DVR: Das wäre der Optimalfall, man kann aber nicht davon ausgehen. Da in Deutschland Winterreifen nicht innerhalb eines bestimmten Zeitraums, sondern bei winterlichen Straßenverhältnissen vorgeschrieben sind, ist nicht davon auszugehen, dass jedes Carsharing-Fahrzeug mit wintertauglichen Reifen bestückt ist. Gehen Sie auf Nummer sicher und prüfen Sie die Bereifung vorab, denn wenn Sie das Auto fahren, sind Sie verantwortlich für die gesetzeskonforme Bereifung, nicht der Halter.
Sind bei guten Winterreifen Schneeketten überhaupt noch notwendig?
Axel Kühne, Vergölst: Die Frage ist nicht, was notwendig ist, sondern wie die Vorschriften lauten. Strecken mit Schneekettenpflicht sind immer entsprechend beschildert und dann sind Sie verpflichtet, auch mit Schneeketten zu fahren. Abgesehen davon: Wenn viel Neuschnee gefallen ist, kommen Sie besonders an Steigungen ohne Schneeketten nicht weiter – egal wie gut Ihre Winterreifen sind.
Was ist mit meinem Reserverad? Muss ich das beim Winterreifen-Wechsel mittauschen?
Jürgen Eigenbrodt, Nexen Tire: Konsequenterweise ja! Denn oft haben Winterreifen eine andere Größe als die auf dem Fahrzeug eingesetzten Sommerreifen. Zum anderen dürften Sie mit dem Sommerreifen, den Sie bei einer Panne aufziehen, gar nicht fahren, wenn die Straßenverhältnisse winterlich sind.
Ich habe gelesen, der Gesetzgeber plant eine genauere Regelung, was Winterreifen sind…
Stefan Ehl, KÜS: Der aktuelle Entwurfsstand sieht vor, dass das M+S-Symbol durch das Schneeflockensymbol abgelöst wird. Damit wären erstmals spezifische Anforderungen an Winterreifen Grundlage für die Kennzeichnung einer gesetzlich zugelassenen Bereifung.
Autor:Christian Schweizer aus Bretten |
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