Helga Essert-Lehn aus Oberderdingen berichtet von ihrer Skandinavien-Reise, Teil 3: Entdeckung der (skandinavischen) Langsamkeit

Auf der Fähre Stockholm-Helsinki. | Foto: Essert-Lehn
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  • Auf der Fähre Stockholm-Helsinki.
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6. Juni: Helsinki – Pulsierende Stadt mit Gelassenheit

Nach einer etwas unruhigen Nacht in unserer Mini-Stockbett-Kabine auf der Fähre genießen wir das Frühstücksbüffet an Bord. Unsere Fähre legt 10.10 Uhr an und die Unterkunft liegt weniger als 1 Minute von der Anlegestelle entfernt. Wir erhoffen uns dort einen Parkplatz, um in aller Ruhe die Stadt zu erkunden. Das Hotel Katajanokka befindet sich in einem ehemaligen Gefängnis. Unser Zimmer ist eine Gefängniszelle oder, besser gesagt, aus drei jener Art mit viel Stil, Geschmack und einer künstlerischen Hand umgebaut. Das Hotel, 2007 eröffnet, ist so beeindruckend, dass wir uns veranlasst sehen, diese vielen kleinen und großen Details zu fotografieren. Wir sind das zweite Mal in Helsinki und verkneifen uns aufgrund des kurzen Aufenthaltes eine Sightseeingtour. Ebenso wie den Felsendom, den wir bei unserem ersten Aufenthalt schon besichtigt hatten. Aber für jeden Helsinki- Besucher ist dies unbedingt zu empfehlen, ebenso wie eine Fahrt mit der Tram-Bahn. Stattdessen genießen wir Kaffee auf dem Markt und warten auf die Fähre nach Suomenlinna, unserem nächsten Ziel. Die Insel Suomenlinna, ehemalige Finnenburg oder früher auch Svaeburg genannt, liegt direkt vor Helsinki und ist in 15 Minuten per Fähre oder Wasserbus zu erreichen. Inzwischen ist sie Weltkulturerbe und hat eine lange und nicht gerade unblutige Geschichte hinter sich. Man kann sich hier den ganzen Tag aufhalten und wandern, in den Ruinen herumlaufen, Museen besuchen, Kunst genießen. Unter anderem hat hier auch ein Künstler sein Atelier, eine Kunstschule ihr Domizil gefunden. Ein fast magischer Ort, der zum Verweilen, schauen, genießen verleitet. Hier könnte ich stundenlang zeichnen, beobachten, fotografieren, schreiben und in der Sonne sitzen. Ich vergaß zu erwähnen, dass uns Helsinki mit Sonnenschein bei 23 Grad aufwartete. Zurück am Hafen folgt ein Gang durch die Markthalle und das Schlendern durch die Straßen von Helsinki mit dem Aufsaugen der heiteren Gelassenheit dieser Stadt. Der Markthalle schenken wir wieder etwas mehr Aufmerksamkeit. Düfte, visuelle Anregung und das rege Treiben sind Balsam für unsere Augen und unsere Kamera.
Am Abend gönnen wir uns ein Dinner im ehemaligen Gefängniskeller, der ebenso wie das ganze Hotel Katajanokka von feinfühligen Designern und Architekten hergerichtet wurde. Der Jailhouse-Burger und vor allem die Fischsuppe zur Vorspeise sind unser persönliches Highlight an diesem Abend. Immer wieder entdecken wir neue Winkel und Ecken, die liebevoll renoviert, künstlerisch gestaltet oder im klaren skandinavischen Design dekoriert wurden. Hier möchte man bleiben.

7. Juni: Durch die finnische Seenplatte bis nach Jyväskulä

Wir machen uns auf den Weg, dem Nordkap entgegen. Unser nächstes Ziel ist Jyväskyla. Unsere Fahrt führt durch die finnische Seenplatte. Es wird zu einem entspannten Fahren, sind wir doch streckenweise ganz alleine unterwegs und nur gelegentlich treffen wir auf einen entgegenkommenden LKW. Wir haben uns für die Landstraße entschieden, um möglichst nahe an den vielen kleinen und großen Seen vorbei zu kommen. Die Fahrt geht durch endlose Birkenwälder, vorbei an landwirtschaftlichen Höfen, kleinen Ortschaften, Wiesen und Feldern und immer wieder Wasser zwischen den Bäumen. Das langsame Fahren fällt uns nicht schwer – jeder hält sich an die Geschwindigkeitsbeschränkung von 80 oder 100 Stundenkilometer - vermutlich auch, weil mitten in der Landschaft immer wieder ein fest installierter Blitzer auftaucht. Und so genießen wir unsere Mittagspause mit einem Picknick am See, strecken die Füße ins kalte Wasser und holen uns unseren ersten Sonnenbrand, denn die Temperaturen sind sommerlich. In Helsinki starteten wir um 10.00 bei 21,5 Grad - in Jyväskulä sind es am Nachmittag bereits 25 Grad. Bei Erreichen der Stadt haben wir den Kilometerstand von 2000 mit dem Auto gefahrene Kilometer überschritten.

Immer weiter nach Norden

Und immer wieder Birkenwälder, Nadelbäume und zahlreiche Seen säumen unseren Weg. Faszinierend sind die Farben: Das tiefe Blau des Wassers, das saftige Grün der Wiesen, das lichte Grün der Birkenblätter, dunkle Moose, die farbigen Häuser, vor allem das kräftige Rot vieler Holzhäuser zwischen den Bäumen. Kleine Boote, schöne Sitzplätze vor den Häusern, geschäftige Menschen, die das gute Wetter ausnutzen und nur sehr wenig Autos. Einsam oder gar langweilig wirkt es nicht auf uns, vielmehr ist es weitläufig, Platzgebend, Raum bietend für Mensch, Pflanzen und Tiere. Und die Natur ist selbst Künstler und gestaltet immer wieder anders.
Am frühen Nachmittag erreichen wir unsere Unterkunft in Simoniemi, ganz in der Nähe von Kemi und direkt am Bottnischen Meer gelegen. Wir freuen uns über das kleine Cottage mit Terrasse zum Meer, kleinem Strand und absoluter Stille, ja auffälliger Stille – man hört nur die zahlreichen Vögel, denn das Meer ist ruhig und hat keine Wellen heute. Aari, unser Vermieter berichtet uns, dass vor einer Woche noch Schnee lag und erst seit 2 Tagen die Temperaturen steigen. Er erklärt uns, wie wir die Sauna einschalten und den Holzofen bestücken können. Verlockend, aber die Außentemperaturen, die über 25 Grad liegen halten uns davon ab. Wir sitzen den ganzen Mittag und Abend in der Sonne laufen am Strand entlang, fotografieren im kleinen Jachthafen, genießen unser selbst zubereitetes Abendessen auf unserer Terrasse und beobachten die Sonne, die heute erst um 0.30 untergehen wird und um 2.00 wieder aufgeht. Auch das ist ein Ort, den wir gerne wieder besuchen würden. Vielleicht im Winter, wenn die Schneeschuhe, die in der Kiste auf der Terrasse lagen, zum Einsatz kommen dürfen und der Bottnische Meerbusen zugefroren ist oder die Huskys vor die Schlitten gespannt werden. Aari hat mit seinen Erzählungen unser Interesse geweckt. Tipp: Wanha Pappila Cottages

9. Juni: Die Landschaft ändert sich

Es ist kaum zu glauben, aber immer noch haben wir warmes Wetter und frühstücken im Freien.... und das so nah am Polarkreis. Die Reise führt uns weiter nach Rovaniemi, wo wir nach 5 Kilometern endlich den Polarkreis überschreiten. Klar, dass es hier die passenden touristischen Einrichtungen gibt. Unter anderem das Postamt des Weihnachtsmannes in dem man, so die Angestellte die Postkarten für Weihnachten 2017 bereits jetzt abschicken kann. Nach weiteren 5 Kilometern sehen wir die ersten Rentiere. Ganz unerschrocken stehen sie am Straßenrand und ein paar Kilometer danach kreuzt eine kleine Herde die Straße. Ein weiterer Grund, langsam zu fahren. Mit der Zeit werden die Bäume niedriger, die Wälder lichter und die ersten Sumpfgebiete tauchen auf. Die Bäume sehen windgebeutelt aus. Die Birken winden sich in Kurven in die erstaunlich geringe Wuchshöhe. Ganz so, als wollten sie Tango tanzen. Rinnsale, Bachläufe, Flüsse begleiten die Straße. Und immer wieder Rentierherden, jetzt auch mit vielen Jungtieren. Sami – Siedlungen sollen hier sein und viele noch ansässige Samen. Wir übernachten in einem sehr alten Hotel, traditionell geleitet von einer Sami und ihrer Familie, in der Ortschaft Inari un am Fluss Juutuanjoki, der in den Inari See fließt. Auf dem letzten Wegstück zu unserer Unterkunft sind wir dem Fluss schon gefolgt. An mehreren Stellen führte ehr noch Eisschollen mit sich und das Knacken der Schollen im rauschenden Gewässer bleibt uns als eigenartiges Geräusch bestimmt noch lange in Erinnerung. Der Inari-See selbst ist immer noch komplett zugefroren und an eine Bootsfahrt ist noch nicht zu denken.
Wir lassen den Abend ausklingen bei einem samisch-Lappländischen Abendessen im Restaurand des Hotels Kultahovi mit Rentier-Tartar und Fisch aus dem Inari Fluss. Diesen haben wir uns am taghellen späten Abend bei einem ausgedehnten Spaziergang entlang des Flussufers genauer angesehen. Seine Wassermassen und die gewaltigen Stromschnellen waren wirklich beeindruckend.

10. Juni: Am nördlichsten Punkt

Schon früh starten wir von Inari in Richtung Nordkap. Es ist ein spannender Weg, der von uns stellenweise im Schritttempo passiert wird, da so viele Dinge zu sehen sind. Fotostopps an besonders schönen Ecken und auch das Verlangsamen der Fahrt aufgrund der schmalen Straßen und der gelegentlich auftauchenden Wohnmobile lassen die Fahrt zeitlos erscheinen. Immer zahlreicher werden die Rentier-Begegnungen und zahlreicher werden auch die Wolken, bis die Sonne völlig im Grau verschwindet. Bei Kasasjok passieren wir die Grenze von Finnland nach Norwegen. Kasasjok ist nicht nur Sitz des Parlaments der Samis, es gibt dort auch ein spannendes Museum mit Siida, einer anschaulichen Wohnsiedlung der Samis. Unbedingt empfehlenswert! Wir fahren durch die Finnmark, die noch verhalten auf den Frühling wartet, vorbei an vom Wind gebeutelten Birken und Sträuchern, die aussehen, als würden sie Tango tanzen im Wind. Überhaupt habe ich vergessen den finnischen Tango zu erwähnen, der uns schon in Helsinki am Hafen empfing und ebenfalls typisch ist für Finnland. Aber jetzt sind wir in Norwegen angelangt, oder besser gesagt in der Finnmark. Die Spuren der Samis sind überall. Gut vermarktet ist es natürlich auch und dem Tourismus zuträglich. Der Nordkap-Tunnel führt nach Magerøya. Zahlreiche Fußgänger und Radfahrer sind ebenfalls auf dem Weg zum Nordkap und trotzdem ist es noch sehr leer auf der Straße. Wie schon so oft auf dieser Reise sind wir streckenweise alleine unterwegs. Wir erreichen unsere Unterkunft Kirkeporten im Fischerdorf Skarsvåg, dem nördlichsten Fischerdorf Norwegens um die Mittagszeit. Wir sind jetzt noch 13 Kilometer vom Nordkap-Felsen entfernt. Es ist jetzt noch kälter, noch windiger und der Himmel ist noch grauer geworden. Aber immerhin regnet es nicht und die Dame an der Rezeption verkündete Sonne ab 20.00 Uhr. Unsere Hütte ist direkt am See, gemütlich warm und winddicht. Das Fischerdorf ist sehr klein, hat aber trotzdem ein nettes kleines Café, in dem wieder der Weihnachtsmann in allen Varianten auftaucht.
Die Luft ist inzwischen so eisig, dass man nur wenige Schritte im Freien gehen möchte. Also entschließen wir uns für ein Abendessen am Campingplatz. Fisch ist immer eine gute Entscheidung in Norwegen und in der kleinen Gaststätte am Campingplatz Kirkeporten schmeckt er ganz hervorragend.
Die Fahrt zum Nordkap-Plateau ist ein Fest für das Auge. Viele Flächen sind noch schneebedeckt, dazwischen immer wieder türkisfarbene Flecken, die auf zugefrorene Wasserflächen hindeuten. Leider gibt es nur wenige Stellen, an denen man anhalten und fotografieren kann. Da aber kaum Verkehr ist, können wir an manchen Stellen langsamer fahren oder auf der Straße stehen bleiben. Wir haben Glück – es ist 21.00 Uhr und es hat nur wenige Menschen bis jetzt auf das Plateau gelockt, die Sehenswürdigkeiten sind fast leer, keiner drängelt im Café oder steht im Weg, wenn ich gerade dabei bin, ein schönes Foto zu machen. Erst viel später kommen die Reisebusse von den Kreuzfahrschiffen, um die Mitternachtssonne zu sehen. Sie zeigt sich uns gegen 24 Uhr allerdings nur in einem schmalen Lichtstreifen am Horizont zwischen den Wolken. Und wir stellen fest, es ist auch ohne Mitternachtssonne beeindruckend an diesem nördlichsten, befahrbaren Punkt Europas zu stehen.
„Hier stehe ich endlich an der äußersten Spitze Finmarks- ja, am Ende der Welt. Hier wo die Welt endet, nimmt auch meine Neugier ein Ende und ich kehre zufrieden nach Hause zurück, wenn Gott es will“, so schrieb es Francesco Negri, der erste Tourist des Nordkaps im Jahre 1664.
Zurück in der Hütte beobachte ich noch eine Rentierherde, die sich zwischen den Hütten aufhält. Es ist fast nicht zu schaffen das Licht per Vorhang und Jalousie aus dem Raum zu verbannen. Und als ich gegen 3.00 Uhr wieder wach werde, nehme ich die Sonne wahr, die sich durch die Wolken durchgekämpft hat und nun hell durch die Fenster in unsere Hütte strahlt.

11. Juni: Südwärts in Norwegen

Der nächste Tag beginnt mit einer Wanderung zum Felsen „Kirkeporten (Kirchenportal)“, der unserem Camp den Namen gab. Im Sommer kann man durch diesen Durchbruch zwischen 24 Uhr und 2.00 Uhr die Mitternachtssonne sehen. Außerdem sieht man durch die Felsöffnung auf das Nordkap-Hornet. Am frühen Morgen dort hin zu wandern ist fast noch schöner. Niemand ist unterwegs. Es ist eine sonnendurchflutete Wanderung in einsamer Natur... na, ja, nicht ganz. Rentiere laufen über den Weg. Es gibt auch nicht wirklich Wege. Jeder Schritt muss achtsam gesetzt werden. Man folgt den Holzpflöcken mit weiß angemalter Spitze, die in großem Abstand in den Boden gerammt wurden. Das Ziel? Natürlich der Fels Kirkeporten, aber wenn ich ehrlich, bin gibt es nicht wirklich ein Ziel. Egal wohin du hier gehst: du findest Schönheit. Eine Weile sitzen wir auf einem Felsen am Abgrund zum Meer und blicken in den Fjord, an dessen Ende das Nordkap herausragt und lauschen in die überwältigende Schönheit der Natur, die sich vor uns ausbreitet.
So fahren wir gestärkt südwärts, halten hier und da an, um den Ausblick auf das Eismeer und das Farbenspiel in der Sonne zu genießen und biegen irgendwann in Richtung Alta, unserem nächsten Ziel ab.

Wenn Sie weitere Teile des Reiseberichts lesen möchten, klicken Sie einfach auf unsere Themenseite: Skandinavien-Rundreise

Autor:

Helga Essert-Lehn aus Bretten

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