Johanna Kreppein berichtet von ihrer 77. Reise zu Straßenkindern und ihren Patenfamilien in der Westukraine
Den Kindern zu einem würdigen Leben verhelfen

Die Pflegekinder der Familie Hoycuk: Natalie mit Brille und ihre 3 Schwestern mit Jura (links). | Foto: Kreppein
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  • Die Pflegekinder der Familie Hoycuk: Natalie mit Brille und ihre 3 Schwestern mit Jura (links).
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BRETTEN (kn/ch) Seit 19 Jahren reist die frühere evangelische Musiklehrerin und Erzieherin Johanna Kreppein aus Bretten vier Mal im Jahr in die Westukraine, um Patenfamilien von Straßenkindern mit eingesammelten Spenden zu helfen.  Vom 3. bis 9. Mai war sie erneut dort. Wir dokumentieren im Folgenden Johanna Kreppeins Bericht von ihrer 77. Ukraine-Reise im Wortlaut.

"Am 3. Mai startete ich meine 77. Reise in die Ukraine, ja, ich staune selbst, dass dies alles immer wieder möglich ist. Und dabei kann ich ganz klar sagen:“ ICH, Johanna, könnte dies niemals,“ solch eine starke Hilfe ist nur Gott allein! mit allen, die mich dabei unterstützen.

Keine Patenfamilie hat aufgegeben

Jetzt öffnen sich die Eltern mehr und mehr, berichten Geschichten der einzelnen Kinder, in großem Vertrauen zu mir. Einfach nur hören? Das geht nicht. Ich bin aufgewühlt, zornig und froh zugleich; diese vielen Jahre konnten wir zusammen, die Eltern, alle meine Freunde in Deutschland und der Schweiz, den Kindern zu einem würdigen Leben verhelfen. Das ist wahrhaftig ein Wunder für mich. Ich sehe, wie die Kinder kommen, wie sie sich einleben mit einer enormen Geduld der Eltern und wie auch so manche Schwierigkeiten die Eltern an ihre Grenzen bringen. Und dennoch hat keine unserer Familien aufgegeben! Das ist wirklich stark. Diesmal möchte ich über diese 3 Jungen, Pascha 14, Mischa 12 und Wogdan 10J schreiben.

Vater erstach Mutter vor den Augen der Kinder

Es ist keine feine Geschichte, bitte nur lesen, wenn man sie verkraftet!! Pasha und Micha mussten 2012 ins Krankenhaus wegen Alkoholentzug. Sie wurden schon im Baby- und Kleinkindalter mit Bier ernährt, beide Eltern waren starke Alkoholiker. Wogdan kam ins Kinderheim, weil er noch zu klein für einen Entzug war. Das Baby mit 3 Monaten kam zur Oma. Warum dies alles? Am Abend kam der Vater total betrunken nachhause und fing Streit mit der Mutter an. Auch sie war betrunken. Plötzlich nahm der Vater ein langes Fleischmesser und stach auf die Mutter ein, bis sie tot war. Die Jungens, 3, 5 und 7 J sahen wie gelähmt dies alles mit an. Da nahm Pascha das Telefon und rief die Polizei an. Sie kam sofort und brachte den Vater ins Gefängnis. 7 Jahre Haft bekam der Vater!

Angst vor der Rache des Vaters

Noch 2012 kamen alle, außer dem Baby, zu Familie Galyuk. Alles schien gut! Nun kommt der Vater Ende Mai aus der Haft. Pascha hat große Angst, dass er sich an ihm rächen und auch ihn umbringen wird. Mir ist bei meinem Besuch sofort aufgefallen, dass es den 3 Jungens nicht gut geht. Wieder kommen die Bilder hoch, unverarbeitet, nur zugedeckt. Die ganze Familie Galyuk will die Jungens schützen, ich war sehr berührt, als sie mir das bestätigten. Plötzlich ist mir bewusst geworden, dass alle angenommenen Kinder ihre Geschichte mitbringen und diese Geschichten erst wieder in der Pubertät hervorbrechen. Wie kann man helfen und oftmals ihr Verhalten besser verstehen? Eine schwere Aufgabe für die Pflegeltern!

Ferienlager für Pflegekinder

Und so geht es jeden Tag weiter, auch das Bauen. Petro hat schon im Oktober das ganze Baumaterial gekauft; er wusste, dass eine starke Teuerung kommen wird. Jetzt müsste er 150% mehr bezahlen! Die Pflegekinder können ein Lager besuchen, sonst gibt es keinen Urlaub, meinte Nadja schweren Herzens.

Eigene Wege beim Erwachsenwerden

Eine Überraschung gab es bei Fam. Kamenev. Eric hat uns besucht und sogar Konfekt für Mama und mich mitgebracht. Er ist ein stolzer Paraolympiktrainierer in Skilauf und Snowboard. Viele Medaillen hat er schon gewonnen. Schule sei nicht so wichtig, meinte er. Jura ist das nächste Problem. Er ist 18 geworden und hat dem Vater erklärt, dass er von der Familie weg möchte und alleine für sich verantwortlich sein. So bekommt er von der Kirche in einer WG ein Zimmer und das war´s dann. Jura hat die Größe eines 12-Jährigen. Als Sergej ihn halten wollte, da meinte Jura nur: Hast du ein Problem, ich wurde nicht gefragt, ob ich vom Kinderheim zu euch will. Jetzt sage ICH, was ich will!

Probleme mit Kindern

Was besonderes wurde mir noch berichtet. Pascha 2 ist autistisch und hat jetzt in der Pubertät viele Probleme. Niemand darf ihm zu nahe kommen, in der Schule hat er Angst und hat nur Vertrauen zu Maxim. Maxim ist sein Coach und Begleiter überallhin. Er sitzt auch in der Schule neben Pascha und hilft ihm dann zuhause. Die Eltern machten sich Sorgen um Maxim, doch er lachte nur und sagte: „Es ist doch mein Bruder, ich helfe ihm gern!“ Kolja kommt immer wieder vorbei und hat auch guten Kontakt zu allen größeren Jungens. Er wohnt alleine in der Stadt und hat Arbeit, was nicht selbstverständlich ist. Viele Ukrainer gehen nach Polen und Tschechien. Leider hat Jura seinen Bruder Anatoli angesteckt. Nach einem schönen Konzert, das ihm selbst auch Freude machte, sagte er: „Jetzt höre ich auf mit Saxophon.“ Sweta kann das gar nicht verstehen und sagt ihm stark die Meinung.
Wie lange alle zusammen noch in die Kirche gehen? Sergej sagt mir: „Ich genieße es jedes Mal, wenn wir im Bus sitzen. Sicher können wir bald wieder mit neuen Kindern anfangen.“ So sind die Eltern Kamenev!!

Leben aus dem Moment

Und weiter geht es – zur Familie Ilosvay. Diese Familie ist mir ein Rätsel. Sie haben keine Kinderprobleme, keine Planung, alles geschieht im Moment! Die Kinder arbeiten zusammen. Die Großen sehen nach Kleinen und jeder hilft in der Küche mit. Fruszina arbeitet mit einer Nachbarin zusammen im Haushalt und bekommt Geld dafür. Sie kann nicht offiziell arbeiten, ist Autist durch schwere Misshandlungen im Kleinkindalter. In dieser Familie denkt auch niemand ans Ausziehen. Alle sind gerne bei Mama Marika. Mark wird auch zuhause wohnen bleiben und im September ein Studium beginnen. Er spricht sehr gut Deutsch und übersetzt auch für mich.

Pläne der Pflegeeltern

Als wir ankommen überfallen uns alle Kleinen und kleben direkt an mir. Dies bin ich eigentlich nicht gewohnt. Da sah ich, dass die Eltern nicht da waren. Diese hätten eine solch anhängliche Begrüßung nicht erlaubt. Wir bekommen gleich einen Kaffee von Fruszina und da kommen auch schon die Eltern. An der Grenze von Ungarn gab es Probleme. Mark ist noch in Deutschland arbeiten. So müssen Attila und Eugen übersetzen. Levente kann es kaum erwarten, dass er die Tasche auspacken darf. Das ist für ihn ein körperlich spannendes Erlebnis. Levente soll die Schule wechseln in Ungarn. Dazu brauchen die Eltern eine Adresse in Ungarn, wo sie „wohnen“. So könnte auch Marthon dort in die Schule gehen. Zuvor müssen sie ihn adoptieren. Dies wiederum bedeutet, dass sie dann kein Kindergeld mehr bekommen würden. Irgendwie enden alle Pläne in einer Sackgasse. Finanziell plant Marika einen Eisverkauf von zuhause aus. Sie wohnen an einer guten Straße, meinte Marika. Das Geld für die Eismaschine und, was sonst dazu gebraucht wird, ist nicht vorhanden. Ich reagiere nicht!

Gesetz schreibt Ukrainisch vor

Mate arbeitet in einem Altenheim in Nireghasa (Ungarn) und Viktoria arbeitet neben ihrem Studium als Kindermädchen in Budapest. Allen scheint es gut zu gehen, so die Eltern. Nur die Politik macht große Probleme, vor allem für die Nicht-Ukrainer. Poroschenko hat noch schnell ein Gesetz gemacht, dass nur noch Ukrainisch gesprochen werden darf. Wer eine andere Sprache spricht, wird eingesperrt oder muss eine große Strafe bezahlen. In der Westukraine spricht man Ungarisch, Rumänisch, Bulgarisch, Tschechisch, Slowakisch und sicher auch Polnisch. Wie wird Selenski damit umgehen und wie ernst ist das Gesetz???

Schimpfen auf die Politik

7. Mai, wir fahren zu Familie Hoychuk. Fahren ist echt übertrieben, denn es gibt keine Straßen mehr. Schlamm aufgefüllt mit Bruchziegeln und Löchern!!! So kommen wir auf dem Hof an und werden von Mischa lachend begrüßt. Die Kinder kommen von der Schule und alle setzen sich um den großen Tisch. Auch hier wird heftik auf die Politik und Poroschenko geschimpft. Die Wut ist groß, denn besonders den Landwirten macht man das Leben schwer. Für ihre Produkte bekommen sie fast keine Einnahmen. Urlaub für die Kinder? Kein Geld.
Und dennoch machen die Eltern mit unserer Hilfe, was für die Kinder möglich ist. Ausflüge und draußen kochen, oder im Trampolin sich müde hüpfen, solche kleinen Freuden müssen sein, meinte Mischa. Ob sie auf ein staatliches Ferienlager können, ist noch ungewiss.

Prüfungsangst und Zwang zum Stehlen

Probleme gibt es mit Jura. Er sollte die Berufsschule beenden mit einer Prüfung. Da Jura aber sehr große Prüfungsangst hat und vor allem in der mündlichen Prüfung kein Wort heraus bringt, soll er jetzt ohne Prüfung ein Praktikumsjahr in einer Werkstatt machen und dann noch einmal ein Jahr auf die Berufsschule gehen. Mischa meint, dass Jura auch in einem Jahr nicht vor Prüfern reden kann. Er kann auch nicht seine Kindergeschichte erzählen. Ohne Abschluss bekommt er aber keine Arbeit, vor allem im Ausland.
Natalie ist von zwei Schulen und einer Lehrstelle geflogen wegen Diebstahls. Sie kann es absolut nicht lassen zu stehlen, sobald sie sich unbeobachtet fühlt. Mama Alina war mit ihr beim Schulpsychologen. Dort hat Natalie aus ihrer Zeit auf der Straße erzählt. Sie musste 3 Jahre ihre 3 Schwestern, Miroslava 5, Christina 6 und Katja 2 auf der Straße versorgen. Nur mit Stehlen war dies möglich. Sie selbst war gerade 10 Jahre alt. Als sie ins Kinderheim kamen, musste sie sehr oft in einem Dunkelzimmer Strafe absitzen. Erst bei Fam. Hoychuk beruhigte sie sich und hörte zu stehlen auf. Sobald sie aus der Geborgenheit der Familie heraus kommt, überfällt sie eine Angst und so muss sie stehlen.

Belastungen einer Pflegemutter

Am 8. Mai vormittags treffen wir uns noch einmal mit Aljona. Sergej ist mit den Kindern auf „Straßenmission“ und so haben wir viel Zeit, über alles zu sprechen. Vor allem über die Kinder zu sprechen, die einfach gehen ohne Dank. Es war für Aljona gut, auch die ganze Geschichte mit ihrer eigenen Tochter, die sie nicht mehr sehen darf, offen auszusprechen. Über Facebook hat sie erfahren, dass sie Großeltern einer kleinen Enkelin geworden sind. Auch sie dürfen sie nicht sehen. Warum? Das kann ich nur mündlich erklären.

Probleme mit lebenswichtigem Transportmittel

Familie Demesh wartet schon auf uns am Nachmittag. Die Kinder haben keine Schule. Weshalb? Es gibt in der Ukraine immer einen Grund, die Schule fallen zu lassen. Da braucht man auch die Lehrer nicht bezahlen!! Mit den Kindern geht es der Familie gut. Anna hat ihren Abschluss fast beendet und wird im September mit dem Designer-Studium in Uschgorod beginnen. Jura besucht noch die Berufsschule für ein Jahr; was dann? Roman lacht: “Steht in den Sternen.“ Richtig schlimm haben das Hausdach und der Bus unter dem harten Winter gelitten. Der Bus ist ganz unbrauchbar, und das Dach haben sie jetzt begonnen zu reparieren. Sie müssen jeden trockenen Tag ausnützen, denn der Regen ist jederzeit zu erwarten. Das Dach muss komplett abgedeckt werden und braucht einen neuen Dachstuhl. Die Kosten hat mir Roman nicht verraten. Viel will er mit Nachbarn selbst erledigen. Der Bus macht Roman am meisten Kummer. Da er seine Backwaren auf dem Markt verkauft, braucht er den Bus, um die gebackenen Brote dorthin zu bringen. Oft gehen Natascha und Roman bis zu 4 Mal morgens zu Fuß und tragen die Waren zum Markt. Wegen der hohen Zollkosten muss Roma in der Ukraine einen Bus finden. Die Probleme zehren an den Nerven der Eltern. Eigentlich hatte Roma einen 2. Backofen geplant, denn die Brote und Kuchen werden gerne gekauft. Doch jetzt ist alles andere wichtiger.

Therapien gehen weiter

Trotz allem, was den Eltern Sorge macht, gehen die Kinder weiter in ihre Therapien, Kunstschule und Sport. Musik ist nicht so begehrt, als ich danach fragte. Wichtig ist auch die Schülerhilfe für Dima und Mascha. Die vier Geschwister, Anna 18, Dima 15, Iwan 13 und Mascha 10 sind in ihrem Elternhaus eingeschlossen und halb verhungert gefunden worden. Die Eltern sind ins Ausland verschwunden. Nun leben sie seit 7 Jahren bei Demesh!!

Dankbarkeit für die Hilfe deutscher Freunde

Von allen Familien hörte ich zum ersten Mal, wie gut es sei, dass so viele Freunde aus Deutschland helfen! Nie wollte man mir zeigen, dass sie es nicht schaffen. Die Ukrainer sind sehr stolz und geben nicht gerne zu, dass sie etwas nicht können. Auch untereinander ist man immer stark und schafft alles alleine! Haben sie dazu gelernt??
Alle Projekte, die angefangen sind, konnte ich unterstützen mit Ihrer Hilfe!! Doch jedes Konto wird einmal schwach, wenn man es sehr strapaziert. Und diesmal habe ich allein vor Ort mit Einkaufen der Medikamente und Lebensmittel 500 Euro, das sind derzeit 15 000 ukrainische Grivna, für die Familien ausgegeben. Und genug war es für keine Familie. Dazu für jede Familie wie immer eine Unterstützung. Eigentlich wollte ich „Urlaubsgeld“ bringen, doch das kann man bei der Preiserhöhung von 150% vergessen. Jetzt reicht es gut zum Leben, bestätigten mir die Eltern aller Familien.

"Direkt erzählen ist besser"

Am 9. Mai holte mich Rudi für die Rückfahrt ab. Es war ein ein straffes Programm in nur 6 Tagen, und gut, dass ich mir alles notiert habe. Gerne beantworte ich Fragen oder gebe persönlich Bericht durch einen Vortrag, wenn Sie mich einladen. Direkt erzählen ist besser. Die nächste Reise plane ich voraussichtlich Ende August. Am 1. September beginnen die Schulen wieder.

Eine Bitte zum Schluss

Allen Freunden möchte ich von ganzem Herzen danken, dass ich so oft in die Ukraine reisen konnte mit ihrer Unterstützung!! Eine besondere Anfrage habe ich noch. Meri braucht dringend einen Geigenbogen. Sie hat ihren ganz abgespielt und ist jetzt echt in Not gekommen. Wer mir damit helfen kann, bitte schreiben oder anrufen. Ich bin sehr dankbar dafür!!
Herzlich grüßt Sie/Euch Johanna Kreppein"

Spenden

Spenden sind möglich OHNE Spendenbescheinigung bei:
Sparkasse Kraichgau; Johanna Kreppein, Bretten
IBAN DE05 6635 0036 0010 2150 95
BIC: BRUSDE66XXX

Mit Spendenbescheinigung bei:
Sparkasse Kraichgau; Ev. Luthergemeinde Bretten
IBAN: DE52 6635 0036 0005 0220 33
BIC: BRUSDE66XXX

Mehr über Johanna Kreppein lesen Sie hier

Mehr Reiseberichte lesen Sie auf unserer Themenseite Reisebericht

Autor:

Chris Heinemann aus Bretten

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