So viele Kirchenaustritte wie nie zuvor im Südwesten
Über 44.000 Katholiken aus Kirche ausgetreten

Stuttgart (dpa/lsw) - So viele Christen wie nie zuvor haben sich im vergangenen Jahr in Baden-Württemberg von der Kirche abgewandt. Die katholischen Bistümer und evangelischen Landeskirchen meldeten am Freitag Rekordaustrittszahlen. Die Ursachenforschung ist für sie schmerzhaft.

Die höchste Zahl an Austritten bisher

Mehr als 44.000 Katholiken traten aus ihrer Kirche aus: fast 21.900 im Bistum Rottenburg-Stuttgart (2018: 17.500) und fast 22.300 im Erzbistum Freiburg (2018: rund 18.000). Ende 2019 gehörten noch etwa 3,58 Millionen Menschen im Land der katholischen Kirche an (2018: 3,64 Millionen). Den beiden Landeskirchen kehrten mehr als 37.800 Mitglieder den Rücken, davon 24.100 in Württemberg und 13.700 in Baden. «Dies ist die höchste Zahl an Austritten bisher», teilte die württembergische Landeskirche für ihren Bereich mit. Innerhalb von nur vier Jahren hat sich die Zahl mehr als verdoppelt. Die Landeskirche hatte Ende vergangenen Jahres rund 1,96 Millionen Mitglieder (2018: 1,99 Millionen). In Baden gibt es noch rund 1,12 Millionen Protestanten (2018: 1,14 Millionen).

Gründe: Keine Geduld und fehlende Reformkraft

Das Erscheinungsbild der Kirche und eine nicht mehr zeitgemäße Haltung seien entscheidend für einen Austritt, sagte Matthäus Karrer, Weihbischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Ausgetretene berichteten davon, sie hätten keine Geduld mehr und sprächen der Kirche jede Reformkraft ab. «Zentrale Punkte sind dabei: Macht- und Hierarchiewahrnehmung, gleichberechtigter Zugang von Frauen zu allen Weiheämtern und die Sexualmoral.»

Gesellschaft braucht Botschaft mehr als je zuvor

Es sei kein Naturgesetz, dass die Zahl der Gläubigen sinke, sagte der Freiburger Erzbischof Stephan Burger. «Es ist bleibender Auftrag der Kirche, den Menschen bewusst zu machen, wie wertvoll unsere kirchliche Gemeinschaft für sie persönlich sein kann.» Die Gesellschaft brauche die christliche Botschaft heute mehr als je zuvor. Sorgen machen sich die Verantwortlichen vor allem um die Gruppe der 25- bis 35-Jährigen, in der die Zahl der Austritte landesweit besonders hoch ist. Laut württembergischer Landeskirche ist allerdings auch die Wahrscheinlichkeit eines Austritts bei Mitgliedern über 60 Jahren um rund 50 Prozent im Vergleich zum Jahr zuvor gestiegen. Die Kirche will daher im Herbst eine Untersuchung starten.

Druck auf Kirchenkassen wächst

Mit der stark sinkenden Zahl der Mitglieder wächst der Druck auf die Kirchenkassen - und bessere Zeiten scheinen nicht in Sicht. Im laufenden Jahr erwartet die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) wegen der Pandemie einen deutlichen Rückgang der Kirchensteuereinnahmen - je nach wirtschaftlicher Entwicklung von 10 bis 25 Prozent. Auch die katholische Kirche rechnet wegen Corona mit deutlich weniger Kirchensteuereinnahmen. Allerdings zeige die aktuelle Extremsituation auch, wie wichtig es für viele Menschen sei, von Kirche und Diakonie begleitet zu werden, sagte Oberkirchenrat Martin Wollinsky.

"Mutige Veränderungen" sind notwendig

Bundesweit sind im vergangenen Jahr mehr als eine halbe Million Menschen aus der Kirche ausgetreten, darunter 272 771 Katholiken und etwa 270 000 Protestanten. Es gibt jetzt in Deutschland noch 22,6 Millionen Katholiken und 20,7 Millionen Protestanten. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, sagte in Hannover, an den Zahlen gebe es «nichts schönzureden». Bisweilen seien «mutige Veränderungen» erforderlich; deshalb hätten die deutschen Katholiken den Reformprozess Synodaler Weg eingeleitet.

Autor:

Beatrix Drescher aus Bretten

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