„Zeynep hat uns alle verändert“
Brettener Kinderarzt war im Katastrophengebiet

Die Rettungskräfte von I.S.A.R. Germany haben unter Zeitdruck und unter gefährlichen Umständen vier Überlebende gefunden. Foto:  | Foto: I.S.A.R. Germany
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Bretten/Türkei (hk) Als vor zwei Wochen die Erde in der Türkei und in Syrien bebte, wurde das Leben vieler Menschen innerhalb von Sekunden ausgelöscht. Die Bilder von den zerstörten Gebäuden und Straßen und den Trümmern, die einst ein Zuhause waren, haben viele Menschen tief bewegt – wie auch Dr. Matthias J. Gelb, Kinderarzt in der Kinder- und Jugendärztlichen Gemeinschaftspraxis in Bretten, der mit den Hilfsorganisationen I.S.A.R. Germany und BRH Bundesverband Rettungshunde als Teil eines Such- und Rettungsteams in das Katastrophengebiet aufgebrochen ist. Gemeinsam mit rund 40 weiteren Teammitgliedern und sieben Rettungshunden war er in der Stadt Kırıkhan in der Provinz Hatay, nahe der syrischen Grenze, im Einsatz. Inzwischen ist das Team wieder nach Deutschland zurückgekehrt.

„Das Schicksal der Opfer entscheidet sich in den ersten 72 Stunden“

Verdichten sich die Hinweise seitens der Vereinten Nationen auf die Möglichkeit eines internationalen Hilfeersuchens, so werden die I.S.A.R.-Einsatzkräfte über eine spezielle Alarmierungsschleife in Voralarm gesetzt. So war es auch, als gegen 5 Uhr morgens der Brettener Kinderarzt benachrichtigt wurde. Über die Frage, warum er mitgegangen ist, muss Gelb im Gespräch mit der Brettener Woche nicht lange nachdenken. „Weil es notwendig ist“, antwortet er. Gegen 9 Uhr sei klar gewesen, dass das Team ausrücken würde. Bis 12 Uhr hatte Gelb noch seine Patienten in der Kinderarztpraxis in Bretten zu versorgen. Bereits um 13 Uhr saß er im Zug zum Flughafen. „Bei Katastrophen wie Erdbeben entscheidet sich das Schicksal der Opfer in den ersten 72 Stunden“, sagt Gelb. I.S.A.R. selbst hat es sich auf die Fahnen geschrieben, dass die Einsatzkräfte sechs Stunden nach dem Voralarm zum Abflug bereitstehen können.
In Kırıkhan angekommen, versuchten die Bergungsspezialisten verschüttete Menschen aus den eingestürzten Gebäuden zu befreien. „Der Hund ist dabei immer noch das schnellste und präziseste Ortungsgerät im Erdbebengebiet, das auch große Flächen schnell abarbeiten kann“, weiß Gelb. Die technische Ortung mit Horchgerät, Bioradar und Sucherkamera unterstützt die Männer und Frauen zusätzlich bei ihrer Arbeit. „Die Berger haben die Hauptarbeit geleistet, das ist für die ein Knochenjob. Sie sind diejenigen, die mitunter die härteste Arbeit leisten müssen“, beschreibt der Kinderarzt. Nach der Bergung der verschütteten Person übernehmen Mediziner die Erstversorgung.

„Zeynep hat sich eine Zeit lang nicht gemeldet"

„Wir haben vier Leute lebend geborgen“, sagt Gelb, der den Einsatzort als „hochgefährlich und fragil“ beschreibt. Es musste viel abgestützt werden, da jederzeit weitere Gebäudeteile einstürzen konnten. Besonders in Erinnerung geblieben, ist ihm die 40-jährige Zeynep, die über 100 Stunden nach dem Erdbeben aus den Trümmern eines eingestürzten Hauses gerettet wurde. Über 50 Stunden hatten die Teams von I.S.A.R. Germany, I.S.A.R. Turkey und BRH daran gearbeitet, die Verschüttete zu befreien – eine Teamleistung durch und durch, wie Gelb betont.
„Man sitzt nicht herum und wartet, bis sein Einsatz kommt.“ Er selbst habe geholfen, wo er konnte, sagt Gelb. Hauptsächlich habe er aber nachts gearbeitet und sei viel bei Zeynep gewesen, um Kontakt mit ihr zu halten. „Sonst hätte sie es nicht so lange ausgehalten“, ist er sich sicher. Man habe sie durch eine Öffnung im Beton sehen können, etwa drei Meter entfernt. „Wir konnten auch sehen, dass sie ihre linke Hand bewegen konnte und auf dem Bauch lag.“ Über einen Schlauch konnten die Einsatzkräfte die Verschüttete mit Wasser versorgen. „Was mich immer noch fassungslos macht“, sagt Gelb und ein Lächeln huscht über sein Gesicht, bevor er fortfährt: „ Zeynep hat sich eine Zeit lang nicht gemeldet. Da dachten wir, sie sei tot. Aber sie hat einfach nur geschlafen."

"Sie musste nicht in der Dunkelheit und alleine sterben"

Der Kinderarzt beschreibt die 40-Jährige als eine „unglaublich starke Frau“, die mit ihrem Willen zum Überleben alle mitgerissen habe. „Sie war immer freundlich, sie hat bis zum Schluss gekämpft.“ Als die Rettungskräfte die verschüttete Frau aus den Trümmern befreit hatten, habe ihr die Sonne aufs Gesicht geschienen, erinnert sich Gelb. „Als sie die wärmenden Strahlen auf ihrer Haut gespürt hat, hat sie gelächelt. Das werde ich nie vergessen.“ Auch nicht den Moment, als die Schwester von Zeynep sich am Rettungswagen bei den Rettungskräften bedanken wollte und – um ihrer Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen – vor ihnen niedergekniete. Der Arzt ist überzeugt davon, dass „Zeynep uns alle, die wir im Einsatz waren, verändert hat.“
Die Nachricht von ihrem späteren Tod im Krankenhaus hatte in der Öffentlichkeit und beim Rettungsteam große Betroffenheit ausgelöst. „Es hätte uns natürlich sehr gefreut, wenn sie überlebt hätte, aber…“ Gelb hält inne. „Beide Kinder und der Ehemann waren tot. Ich denke, sie hat dann im Krankenhaus einfach aufgegeben. Immerhin musste sie nicht in der Dunkelheit und alleine sterben – wie so viele andere.“ Ob das Team den Kampf gegen das Schicksal verloren hat? „Nein, wir haben ihn nicht verloren.“ Man dürfe auch den Effekt für die Bevölkerung nicht vergessen. Diese sehe, es kämpfen Leute um das Leben der Verschütteten, „was ja Hoffnung macht“, erklärt Gelb. Unvergessen würden für ihn aber auch die Szenen bleiben, in denen aus den Trümmern ein Arm herausragt und „man weiß schon, da brauchst du nicht zu graben.“

„Einen Haken dahintersetzen und reflektieren“

In den Ausbildungs- und Trainingsstunden werde man aber auf genau solche Situationen vorbereitet, in denen man "einfach nur funktionieren" müsse. "Da musst du Emotionen erst einmal beiseitelegen“, sagt Gelb. Nach über einer Woche im Katastrophengebiet geht der Arzt wieder seiner Arbeit in der Brettener Kinderarztpraxis nach. Nun gelte es, „einen Haken dahinterzusetzen und zu reflektieren“, sagt der Arzt aus der Melanchthonstadt. Was hätte im Einsatz besser laufen können? Wo besteht eventuell noch weiterer Optimierungs- und Trainingsbedarf?
Bereits seit den 1980er-Jahren setzt Gelb sein medizinisches Wissen in Katastropheneinsätzen ein. Doch nicht nur in der Ferne, wie in der Türkei oder aber auch Ruanda oder Tansania, konnte Gelb in der Vergangenheit seine Hilfe anbieten. Auch in Deutschland war er, zuletzt im Ahrtal, im Einsatz. Im Jahr 2020 war er mit I.S.A.R. während der Corona-Pandemie aber auch in Namibia.

I.S.A.R. Germany und der BRH Bundesverband Rettungshunde haben bereits angekündigt, dass sie ihr Engagement für die Menschen in der Erdbebenregion fortsetzen werden. Wer die Organisationen unterstützen möchte, findet alle Informationen unter www.isar-germany.de/so-helfen-sie und www.bundesverband-rettungshunde.de/de/spenden.html.

Autor:

Havva Keskin aus Bretten

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