"Unter der Oberfläche schwelt es weiter"
Nach rassistischen Anschlägen in den 90ern befindet sich Bretten zwischen Spannung und Solidarität

Aus dem Archiv der Brettener Woche (2. Dezember 1992): Nach dem Brandanschlag in Mölln reagiert der Brettener Gemeinderat mit einer "Erklärung zur Ausländerfeindlichkeit". | Foto: Brettener Woche
  • Aus dem Archiv der Brettener Woche (2. Dezember 1992): Nach dem Brandanschlag in Mölln reagiert der Brettener Gemeinderat mit einer "Erklärung zur Ausländerfeindlichkeit".
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Mölln/Bretten (kuna) Fast 700 Kilometer von Bretten entfernt, ändert sich das Leben von Ibrahim Arslan in der Nacht auf den 23. November 1992 schlagartig. Zwei Neonazis werfen in Mölln, einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein, Molotowcocktails in zwei Häuser, in denen türkischstämmige Familien wohnen. Die 51-Jährige Bahide Arslan, die 13-jährige Ayşe Yilmaz und die 10-jährige Yeliz Arslan kommen ums Leben, neun weitere Personen werden schwer verletzt. Eine Welle der Fassungslosigkeit zieht durch das Land. Auch der Internationale Freundeskreis Bretten (DAF) sammelt Spenden und schreibt einen Brief nach Mölln. Doch von all dem bekommen die Überlebenden, darunter İbrahim Arslan, für Jahrzehnte überhaupt nichts mit.

Unter den "Möllner Briefen" befindet sich ein Schreiben aus Bretten

Erst 2019 wird Arslan auf die verschollenen Solidaritätsbekundungen – die "Möllner Briefe –  aufmerksam, insgesamt sind es 467 Briefe, Postkarten, Trauerkarten und Zeichnungen aus ganz Deutschland. Heute werden sie im Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (DOMiD) in Köln-Ehrenfeld aufbewahrt. Auch eben jener Brief aus Bretten ist dort archiviert.

Briefe kommen bei Überlebenden nicht an

Weshalb die Briefe nicht bei den Angehörigen angekommen sind, ist laut İbrahim Arslan nicht mehr zu rekonstruieren. Bei dem Anschlag war er sieben Jahre alt und verlor Großmutter, Schwester und Cousine. Da die Familien nach dem Anschlag obdachlos und somit ohne Adresse gewesen waren, seien die Briefe entweder an die Stadtverwaltung oder an eine türkische Teestube in Mölln gesendet worden.

Brettener DAF sammelte 980 D-Mark 

Auch was mit den Spenden passiert, ist für Arslan nicht nachvollziehbar. Der DAF sammelte insgesamt 980 D-Mark und überwies das Geld an das Bürgermeisteramt Mölln. Der damalige Bürgermeister, Joachim Dörfler, habe sich brieflich bedankt, heißt es in einem Artikel in der Brettener Woche am 7. April 1993. Auch für Gerhard Junge-Lampart, dem heutigen Vorstand des DAF, ist der Verbleib des Geldes ein Rätsel. Zur Spendensammlung aufgerufen hatte in 1992 die damalige Vorständin Doremarie Odenwald.

Was ist mit den Spenden passiert?

Das Thema Spenden sei ein schwieriges, auch unter Betroffenen und Hinterbliebenen, erklärt Arslan, der von einer gewissen Opferkonkurrenz spricht. Auch in Mölln hätten die Familien nicht miteinander darüber gesprochen, wie viel Spenden sie erhalten hätten. Arslan führt weiter aus: Generell gebe es keinen bundeseinheitlichen Umgang mit Betroffenen von terroristischen Anschlägen.

Betroffene von rassistischen Anschlägen oft auf sich alleine gestellt

Aus seiner Sicht hätten etwa die Opfer in Halle – in 2019 versuchte ein Rechtsextremist, eine Synagoge zu stürmen, tötete anschließend zwei Menschen und verletzte zwei weitere – sehr viel mehr Solidarität erfahren als die Opfer der NSU-Morde in den 2000ern. Arlsan verweist auch auf die Verpflichtung des Staates, an Opfer von terroristischen und rassistischen Gewalttaten Entschädigungen zu zahlen. Der Weg dorthin sei jedoch beschwerlich: "Die Betroffenen sind in der Pflicht, den Rassismus nachzuweisen, und erhalten dabei keine Unterstützung, wie etwa juristischen Beistand."

Brettener demonstrieren 1993 gegen rassistische Anschläge

Der Brandanschlag in Mölln ist nur eine rassistische Gewalttat von vielen, die sich in den 90er Jahren ereigneten. „Wir schämen uns ... für Hünxe, Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen, ... weicht nicht zurück vor den Mördern!“, heißt es bei einer Demonstration auf dem Brettener Marktplatz an Pfingsten 1993 auf einem Plakat. Auch die beiden DAF-Mitglieder erster Stunde, Brigitte und Gerhard Wortmann, nennen mehrere deutsche Städte in einem Atemzug, wenn sie sich an diese Zeit erinnern.

Ehepaar Wortmann will interkulturellen Austausch fördern

Das Ehepaar Wortmann, beide damals als Lehrer in Bretten tätig, machen sich angesichts dieser Entwicklungen für den interkulturellen Austausch stark. Brigitte Wortmann erinnert sich an das Projekt „Oase des Friedens“ an der Max-Planck-Realschule (MPR), das den Dialog zwischen Christen und Muslimen fördern sollte. „Ein junger türkischer Schüler wollte aber nicht mitmachen. Er meinte, er habe solche Angst gehabt, dass sowas wie in Solingen auch in Bretten passiert“, erklärt sie. Im Mai 1993 wurden in der Stadt in Nordrhein-Westfalen fünf Frauen und Mädchen mit türkischer Herkunft bei einem Brandanschlag ermordet.

Auch Gerhard Wortmann, der noch immer im türkischen Schulelternverein in Bretten tätig ist, erinnert sich: „Türkische Jugendliche wollten damals in Bretten wegen Solingen und Mölln protestieren und Randale machen. Ich habe aber gesagt: Macht das nicht – die Bevölkerung würde das nicht verstehen.“

Gewalttaten in Bretten: Sträfliche Rachegefühle?

Auch in einem Leserbrief äußern sich der türkische Schulelternverein sowie die Grüne und Große Moschee am 24. Februar 1993 in der Brettener Woche: "In den letzten Monaten liest man immer wieder einmal von Gewalttaten türkischer Jugendlicher gegen deutsche Jugendliche." Die Leserbriefschreiber erklären dies mit "sträflichen Rachegefühlen", deren Ursache in den Anschlägen, Morden und Angriffen in ganz Deutschland gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund liege.

Schweigemarsch mit über 1.000 Menschen zieht durch Bretten

Um diesen gefährlichen Tendenzen etwas entgegenzusetzen, entstand die Idee eines Schweigemarsches. „Lieber ein Schweigemarsch als lauthals protestieren“, so Gerhard Wortmann. Am 13. Juni 1993 gehen mehr als 1.000 Menschen auf die Straße, angefangen vom Brettener Handelshof (heute: Lidl) zieht sich der Demozug bis auf den Marktplatz. Initiiert hatte den Marsch der Verein "Türkische Jugend", zahlreiche Deutsche ohne Migrationshintergrund schlossen sich dem friedlichen Protest an. Ein Foto von der Demonstration landet am 17. Juni 1993 sogar in der türkischen Tageszeitung Hürriyet.

"Unter der Oberfläche schwelt es weiter"

30 Jahre später: Was hat sich verändert? Angesichts aktuellster Entwicklungen – man denke etwa an die Umdichtung des Partyhits "L‘amour toujours“ zur rassistischen Parole "Ausländer raus!", das zum viralen Internet-Trend wurde – meint Junge-Lampart: Die Arbeit des DAF seien gute Versuche, doch "unter der Oberfläche schwelt es weiter". Er berichtet von einem Fall in Gölshausen, als eben jenes Lied vor einem Haus mit türkischen Bewohnern wiederholt aus einem Fahrzeug abgespielt wurde. Die Anzeige einer Bewohnerin sei von der Polizei fallen gelassen worden.

Rassistische Parolen in Gölshausen?

Die Polizei erklärt auf Nachfrage: Der Fall sei polizeilich aufgenommen, vom zuständigen Dezernat der Kriminalpolizei behandelt und nach Abschluss der Ermittlungen an die Staatsanwaltschaft Karlsruhe weitergeleitet worden. „Das Verfahren wurde in der Folge von der Staatsanwaltschaft mangels hinreichendem Tatverdacht eingestellt“, so ein Polizeisprecher. Junge-Lampart fragt sich: "Ist das nur ein dummer Jugendstreich? Wie wirkt es wohl auf türkische Bürger, die all diese Anschläge aus den 90ern im Hinterkopf haben?"

Wie haben sich rassistische Straftaten entwickelt?

Eine Auswertung über die Entwicklung rassistischer Straftaten im Brettener Raum seit den 90er Jahren ist laut Polizei nicht möglich. Zum einen würden die notwendigen Daten, aufgrund des Datenschutzes, in der Regel nur zehn bis maximal 20 Jahre vorliegen. Zum anderen müsste das Landeskriminalamt für diese Anfrage einen „enormen händischen Rechercheaufwand“ durchführen, der das zumutbare Maß überschreite. Für 2024 habe die Auswertung bislang keinen Eintrag ergeben.

"Man muss anfangen, mit Betroffenen zu sprechen"

Angesprochen auf die Frage, wie sich der Austausch der Nationen auf kommunaler Ebene fördern ließe, erklärt Arslan: "Man muss anfangen, mit Betroffenen zu sprechen". Noch immer herrsche das Narrativ, dass man Betroffenen mehr Leid zufügen würde, wenn man über die Taten spreche. Er negiert dies vehement: Über die eigenen Erfahrungen sprechen zu können, sei geteiltes Leid, ein "Brechen der Kette des Schweigens" – und zugleich Präventionsarbeit. Schmerzlich ist für ihn jedoch, dass diese Arbeit zum Großteil ehrenamtlich gestemmt wird. Sein Arbeitgeber räume ihm nur sechs Tage im Jahr für die Schulworkshops sein, die er dann unentgeltlich – aber gerne – leitet.

Autor:

Kathrin Kuna aus Bretten

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