Die Zahl der Obdachlosen in Bretten stagniert – aber es zeichnen sich neue Risiken ab
Auf einmal ohne Dach über dem Kopf
BRETTEN/REGION (ch) In Großstädten gehören sie zum Straßenbild. Ab und zu sieht man sie auch an Stadtbahnhaltestellen oder vor Einkaufsmärkten: Frauen oder Männer mit ihrer meist in Plastiktüten verpackten, bescheidenen Habe. Andere sind äußerlich gar nicht als Obdachlose zu erkennen. Auch in Bretten und der Region gibt es Menschen ohne eigenes Dach über dem Kopf.
„Freiwillig“ oder „unfreiwillig“ obdachlos
Durchziehende Obdachlose, im Volksmund „Landstreicher“ genannt, fallen für den Brettener Ordnungsamtsleiter Simon Bolg unter die Kategorie „freiwillige“ Obdachlose. „Die gibt´s bei uns nicht“, versichert Bolg. „Unfreiwillige“ Obdachlose hingegen schon, und für diese sei das Brettener Ordnungsamt zuständig. Wenn zum Beispiel eine Wohnung infolge eines Brandes oder Wasserschadens unbewohnbar werde oder wenn wegen Mietschulden eine Räumungsklage anstehe, reagiere die Stadt sofort. „Wir bieten dann eine Beratung an“, so Bolg. Bei Mietschulden weise das Amt zum Beispiel auf ein mögliches Darlehen des Jobcenters hin. In vielen Fällen könne auf diese Weise eine Obdachlosigkeit vermieden werden. So auch im Februar 2019, als in der Bahnhofstraße infolge eines auf ein Hausdach gekippten Baukrans einige Wohnungen vorübergehend geräumt werden mussten. "Der Vermieter hat sich damals auf unsere Initiative bereit erklärt, den obdachlosen Mietern Hotelzimmer zur Verfügung zu stellen", erinnert sich der Amtsleiter.
Höchststand vor vier Jahren
Den bisherigen Höchststand der Obdachlosigkeit registrierte das Brettener Ordnungsamt im März 2016. Damals waren 80 Menschen obdachlos gemeldet. Im Januar dieses Jahres hingegen nur neun, darunter sieben Männer und zwei Frauen. Laut Bolg der tiefste Stand, seitdem diese Daten erfasst werden. Alle elf 2019 anhängigen Räumungsklagen konnten abgewendet werden. Darüber hinaus berichtet der Amtsleiter von „etwa 30 sonstigen Vorsprachen“ wegen drohender Obdachlosigkeit im vergangenen Jahr.
Vermehrt soziale Ursachen
Als Ursachen stellten seine Mitarbeiter „in letzter Zeit vermehrt soziale Probleme“ wie Drogenmissbrauch oder seelische Erkrankungen fest, sagt Bolg. Zwei bis drei Mal pro Monat kommt es zu häuslicher Gewalt. Die Behörden können dann gegen den Täter ein „Annäherungs- und Rückkehrverbot“ verhängen. Die Folge: Er steht erst einmal auf der Straße. Auch überstürzte Trennungen von Paaren kommen vor. Im Trennungsstreit machten sich viele keine Gedanken, wo sie danach wohnen sollen, gibt Bolg zu bedenken.
„Menschenwürde“ als Maßstab
Manchen fallen dann doch noch Freunde oder Bekannte ein, bei denen sie vorübergehend eine Bleibe finden. Falls sich keine alternative Wohngelegenheit auftut, hat die Stadt laut Bolg die Verpflichtung, diese Menschen per öffentlich-rechtlicher Einweisungsverfügung in einer städtischen Notunterkunft unterzubringen. Derzeit im erst vor vier Jahren neu errichteten Gebäude der Städtischen Wohnungsbau-Gesellschaft An der Schießmauer 6, das die Stadt zu diesem Zweck angemietet hat. Dort gibt es auch ein "Winterschlafzimmer" zum Schutz gegen Erfrieren. Alle Zimmer müssen „menschenwürdig“, sprich beheizt, einfach möbliert und mit sanitären Anlagen ausgestattet sein, verweist Bolg auf Gerichtsentscheide und ergänzt: „Wir tun noch mehr, indem wir auch Waschmaschine, Kühlschrank und Sat-Anlage zur Verfügung stellen.“
Defizit im ländlichen Raum
Trotz des bescheidenen Komforts sollen es sich die Eingewiesenen nicht zu gemütlich machen. Einzelzimmer gibt es nur bei bestimmten Problemlagen und Erkrankungen. Normalerweise schlafen die Menschen in Drei- bis Vierbettzimmern. „Die Betroffenen müssen sich bemühen, so schnell wie möglich wieder auf eigene Füße zu kommen“, unterstreicht der Amtsleiter. Auch beim Diakonischen Werk Bretten kennt man die Thematik. Dienststellenleiter Achim Lechner sieht vor allem in der umliegenden Region noch Handlungsbedarf. Er bedauert, dass die Anregung der Diakonie zu einem von mehreren Kommunen gemeinsam geschaffenen und finanzierten Schutzraum für Obdachlose bisher auf wenig Resonanz gestoßen ist.
Hilfe bei der Existenzsicherung
"Oft ist die Not so groß, dass die Leute von sich aus zu uns kommen“, berichtet Lechner. Wer über längere Zeit keine Meldeadresse und keinen eigenen Briefkasten zum Empfang von Behörden- und Versicherungsmitteilungen oder offenen Rechnungen habe, drohe „aus allen Bezügen herauszufallen“. Um das zu verhindern, gibt es beim Diakonischen Werk die „Allgemeine Sozialberatung“, deren Aufgabenspektrum von der Beratung in „krisenhaften Lebenssituationen“ bis zur Unterstützung bei existenzsichernden Maßnahmen reicht. Dazu gehört die Klärung, ob zum Beispiel ein Anspruch auf Wohngeld, Arbeitslosengeld II oder sonstige staatliche Hilfen besteht.
Alte und neue Risiken
Gleichwohl schränkt Lechner ein: Da die Diakonie selbst über keinen Wohnraum verfüge, sei ihr „Handlungsspielraum begrenzt“. Er verweist auf vorbeugende Angebote wie die überwiegend ehrenamtlich betriebene Schuldnerberatung. 175 Menschen haben dort im vergangenen Jahr Rat gesucht. Davon konnten in 21 Fällen Insolvenzanträge abgeschlossen und in einem Fall eine außergerichtliche Einigung erzielt werden, zitiert Diakonie-Mitarbeiter Jörn Schulze aus der internen Erfolgsstatistik. Nach seiner Beobachtung hat die Gesamtzahl in den letzten Jahren nicht abgenommen. Seine Vermutung: „Es gibt eine Bevölkerungsgruppe, die von der guten wirtschaftlichen Lage abgekoppelt ist.“ Selbst wenn die zugrunde liegenden prekären Beschäftigungsverhältnisse künftig eingeschränkt werden sollten, sieht Achim Lechner die Risiken von Obdachlosigkeit noch längst nicht gebannt, denn: „Durch die Umstellung in der Automobilindustrie könnten bei Beschäftigten der Zulieferbetriebe neue, kritische Situationen entstehen.“
Autor:Chris Heinemann aus Bretten |
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