„In der Kooperation mit Schulen ist noch Potenzial“: Interview mit dem scheidenden Hohberghaus-Leiter Alfred Gscheidle und Nachfolger Christoph Röckinger
Zu Jahresbeginn steht im Evangelischen Hohberghaus in Bretten ein Wechsel auf der Leitungsebene der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung des Badischen Landesvereins für Innere Mission (BLV) an: Am 1. Januar tritt der 36-jährige bisherige Bereichsleiter Christoph Röckinger – vorerst kommissarisch - die Nachfolge von Einrichtungsleiter Alfred Gscheidle an. Wir haben den Wechsel zum Anlass genommen, mit beiden Beteiligten über Gegenwart und Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe in Bretten zu sprechen.
BRETTEN (ch) In den vergangenen Jahren ist es ruhig geworden um das Evangelische Hohberghaus in Bretten. Die Zeit der Umstrukturierungen in der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung des Badischen Landesvereins für Innere Mission (BLV) mit teils öffentlich ausgetragenen personellen Konflikten scheint vorbei. Zu Jahresbeginn steht ein geordneter Wechsel auf der Leitungsebene an: Am 1. Januar tritt der 36-jährige bisherige Bereichsleiter Christoph Röckinger – vorerst kommissarisch - die Nachfolge von Einrichtungsleiter Alfred Gscheidle an. Gscheidle, der täglich aus dem knapp 90 Kilometer entfernten Kirchheim/Teck nach Bretten pendelt, hatte nach eigenen Angaben aus gesundheitlichen Gründen um seine Ablösung gebeten. Wir haben den Wechsel zum Anlass genommen, mit beiden Beteiligten über Gegenwart und Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe in Bretten zu sprechen.
Herr Gscheidle, mit welchem Gefühl verlassen Sie das Hohberghaus?
Alfred Gscheidle: Sehr wehmütig, denn ich habe sehr gerne im Hohberghaus gearbeitet. Als ich meinen Abschied bekannt gemacht habe, habe ich sehr große Wertschätzung erfahren, die Leute sind aufgestanden und haben geklatscht. Und immer wieder kommen Gruppen, um sich persönlich zu verabschieden. Die Arbeit hier hat mir großen Spaß gemacht. Wir haben zusammen etwas entwickeln können, das sich sehen lassen kann.
Was waren die wichtigsten Themen, mit denen Sie in den vergangenen knapp vier Jahren Ihrer Leitungstätigkeit zu tun hatten?
Wir konnten zwei Inobhutnahme-Gruppen für Mädchen eröffnen, die gab es vorher bei uns nicht. An drei Schulen im Umkreis haben wir zur besonderen Förderung von Kindern mit Unterstützungsbedarf kooperative Organisationsformen, früher Außenklassen genannt, aufgebaut, und an sechs Brettener Schulen bieten wir Sozialkompetenz-Training an, um den Schülerzusammenhalt zu unterstützen. Unsere Sprantaler Außenwohngruppe haben wir von koedukativ auf eine rein männliche Jugendgruppe mit neun Plätzen für deutsche und schon länger im Land lebende Jugendliche sowie unbegleitete minderjährige Flüchtlinge umgestellt, und schon vor drei Jahren haben wir ambulant betreutes Wohnen für acht psychisch kranke junge Frauen geschaffen – beides Beispiele für eine bedarfsorientierte Weiterentwicklung, beim ambulant betreuten Wohnen zum Beispiel ist es eine Weiterentwicklung an der Schnittstelle von der Jugendhilfe zur Eingliederungshilfe für junge Erwachsene. Nicht zuletzt haben wir im Bereich Qualitätssicherung mit dem Ausbau des psychologischen Dienstes, der Fortbildung unserer Mitarbeiter und der Weiterentwicklung unserer Standards viel getan. Um nur einige Beispiele aufzuzählen.
Stimmt es, dass sich die Anforderungen an die Jugendhilfe verändert haben? Und wenn ja, inwiefern?
Es stimmt. Auffälligkeiten im Verhalten zeigen sich bei Kindern und Jugendlichen heute schon früher. Viel öfter treten auch Mehrfacherkrankungen auf. Zum Beispiel kann ein Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom, kurz ADS, auch mit depressiven Zügen einhergehen. Auch das Ritzen ist ein immer größeres Thema. Wir müssen für immer komplexere Probleme passgenaue Hilfen finden. Da ist das Hohberghaus mit seinem breiten Angebotsspektrum natürlich gut aufgestellt.
Christoph Röckinger: Auch die gestiegenen Flüchtlingszahlen haben die Anforderungen an die Jugendhilfe verändert. Durch unsere Angebote für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge kommt uns verstärkt eine Integrationsaufgabe zu. Bei Flüchtlingskindern, die mit Familie in Deutschland ankommen, auch in Zusammenarbeit mit den Flüchtlingseltern, denen das gesellschaftliche und das Unterstützungssystem nicht bekannt ist.
Gscheidle: Wir mussten verstärkt Mitarbeiter dafür schulen, mit dem Erfolg, dass wir alle minderjährigen Flüchtlinge aus der Sprantaler Gruppe in Ausbildung bringen konnten.
Wie ist aus Ihrer Sicht die Stellung des Hohberghauses in der Stadt Bretten? Fühlen Sie sich in Ihrer Arbeit wahrgenommen und anerkannt?
Ja, wir fühlen uns anerkannt, auch was den Austausch mit den Behörden angeht. Wir sind gut vernetzt. Wir engagieren uns zum Beispiel bei Straßenputzeten, beim Zeitungssammeln, beim Tag der seelischen Gesundheit, haben einen öffentlichen Vortrag angeboten und veranstalten unseren jährlichen Flohmarkt. Die Bevölkerung und Firmen unterstützen uns auch mit Spenden, wie kürzlich bei der Sterneaktion der Brettener Woche, da gibt es auf jeden Fall einen Austausch.
Röckinger: Ich war einmal mit einer Kindergruppe auf dem Weihnachtsmarkt. Da wurde ich von einer älteren Dame auf die „armen Waisenkinder“ angesprochen. Das hat mir gezeigt, dass das Bild von uns in der Bevölkerung manchmal nicht ganz greifbar ist. Deshalb empfangen wir regelmäßig Schulklassen, die sich über unsere Arbeit informieren. Und vielleicht gewinnen wir so auch den einen oder anderen Jugendlichen für eine spätere Mitarbeit, zum Beispiel in Form eines Freiwilligendienstes.
In welcher Verfassung übergeben Sie das Hohberghaus an Ihren Nachfolger, Herr Gscheidle?
Ich freue mich, dass ich es in sehr gutem Zustand übergeben kann. Wir sind personell und fachlich gut aufgestellt. Vor allem aber bin ich beruhigt, dass ich es an einen fachkompetenten Nachfolger übergeben kann. Herr Röckinger ist schon sehr lang dabei. Insofern fällt mir die Übergabe leicht. Aber ich habe auch gesagt: Wenn ich das Hohberghaus nach Kirchheim mitnehmen könnte, würde ich´s tun.
Ich nehme an, mit 58 Jahren fühlen Sie sich zu jung für die Rente. Was haben Sie noch vor?
Ich werde eine neue verantwortungsvolle Aufgabe als Geschäftsführer eines Vereins für psychisch Kranke übernehmen.
Herr Röckinger, Sie übernehmen am 1. Januar die Verantwortung für derzeit 366 betreute Kinder und Jugendliche sowie 262 Mitarbeiter. Fühlen Sie sich für diese Mammutaufgabe ausreichend gerüstet?
Röckinger: Wie Herr Gscheidle schon gesagt hat, hinterlässt er ein sehr gut bestelltes Feld. Ich kann an sehr viele Dinge, die er in Gang gesetzt hat, anknüpfen. Hinzu kommt, dass ich seit 2004 im Hohberghaus bin und schon in verschiedenen Bereichen gearbeitet habe. Ich bin Gründungsmitglied der Schule Enzberg und leite seit 2012 den größten Bereich im Hohberghaus, bringe also Leitungserfahrung mit..
Was werden Sie als Erstes anpacken?
Zunächst möchte ich mich weiter in die Leitungsaufgaben einarbeiten.. In der Kooperation mit den Schulen sehe ich noch Potenzial für einen weiteren Ausbau.
Welche Herausforderungen gilt es, aus Ihrer Sicht in den nächsten Jahren zu meistern?
Wir müssen weiter bedarfsorientierte Angebote entwickeln, gerade für jüngere Kinder oder Schulanfänger. Wir werden nicht umhin kommen, unsere Konzepte dahingehend zu überprüfen.
Wie kommt man eigentlich als Kind oder Jugendlicher ins Hohberghaus?
In der Regel beantragen Eltern Erziehungshilfe beim Jugendamt. Manchmal erfolgt ein Anstoß auch über die Schulen. Das Jugendamt sucht dann nach geeigneten Leistungserbringern, wie zum Beispiel dem Hohberghaus. Nur in Ausnahmefällen werden Kinder oder Jugendliche in Obhut genommen, nämlich dann, wenn das Wohl des Kindes in der Familie akut in Gefahr ist. Manchmal melden sich auch Kinder oder Jugendliche selber.
Muss man sich als Bürger vor den Kindern des Hohberghauses irgendwie in Acht nehmen?
Ausdrücklich nein. Natürlich gibt es gelegentlich Kinder und Jugendliche mit auffälligem Verhalten. Für die Probleme in ihren Familien können die Kinder aber nichts. Dieser Probleme nehmen wir uns hier an.
Gscheidle: Übrigens kommen unsere Kinder nicht nur aus sogenannten Problemfamilien, sondern aus allen Bevölkerungsschichten.
Sie sprachen von der Neueröffnung von zwei Inobhutnahme-Gruppen für Mädchen. Braucht man so etwas nicht auch für Jungen?
Gscheidle: Tatsächlich gibt es insgesamt mehr Inobhutnahmen für Jungen. Aber wir im Hohberghaus haben uns bei diesem Angebot auf die Mädchen spezialisiert und damit eine Lücke geschlossen.
Ist eine Jugendhilfeeinrichtung in der Größe des Hohberghauses eigentlich noch zeitgemäß? Oder wären mehrere kleine Einheiten nicht flexibler?
Gscheidle: Ich meine, dass kleine Einheiten lange nicht so flexibel sein können. Als Einrichtung mit einem breiten Angebotsspektrum können wir Jugendlichen fließende Übergänge beim Wechsel von einem Angebot zum anderen ermöglichen.
Röckinger: Nehmen Sie ein Beispiel aus dem stationären Bereich: Dort ist der Wechsel von der Inobhutnahme-Gruppe in eine Regelwohngruppe und später in eine Verselbständigungsgruppe möglich. Und das Ganze ohne Wechsel des Jugendhilfeträgers, was doch mit Schwierigkeiten verbunden sein kann.
Warum hat das Hohberghaus Außengruppen?
Röckinger: Das sind hauptsächlich Tagesgruppen. Der Grund ist, dass wir die Kinder und Jugendlichen in ihrem gewohnten Lebensumfeld lassen und dort betreuen wollen, wo sie sich heimisch fühlen. Aber es gibt auch Jugendliche, denen es gut tut, wenn sie bei uns auf dem Gelände sind.
Welche Bedeutung für die praktische Arbeit hat heutzutage der Zusatz „evangelisch“ im Namen des Hohberghauses?
Gscheidle: Das bedeutet, dass wir die christlichen Werte leben wie Fürsorge, Nächstenliebe und einen würdevollen, wertschätzenden Umgang mit den uns anvertrauten Kindern und Jugendlichen. Der seelsorgerische Aspekt ist mir wichtig. In unserem „Raum der Stille“ gibt es die Möglichkeit für Andachten und Meditationen unter Anleitung. Wir greifen auch christliche Traditionen auf wie Gottesdienste mit Kindern, ökumenische Gottesdienste und Gottesdienste mit Landfrauen.
Die letzte Frage geht an Herrn Röckinger: Wie sehen Sie die Zukunft des Hohberghauses?
Röckinger: Das Hohberghaus wird weiter gebraucht. Wir müssen uns bedarfsorientiert weiterentwickeln. Aber bei allen Innovationen und Ideen gilt es auch, Maß zu halten. Wir sollten neben den innovativen Angeboten auch auf unsere klassischen Angebote setzen: stationäre Wohngruppen, Tagesgruppen, unsere Schulen und unsere ambulanten Angebote wie die sozialpädagogische Familienhilfe. Intern ist wichtig: Wir haben sehr gute, motivierte Mitarbeiter, denen wir weiter gute Fort- und Weiterbildungen, zum Beispiel in Form von In-House-Schulungen, anbieten wollen, um an den aktuellen Themen dran zu bleiben. Auch das trägt viel dazu bei, dass das Hohberghaus weiterhin professionell aufgestellt ist und gut angenommen wird.
Die Fragen stellte Chris Heinemann
Autor:Chris Heinemann aus Bretten |
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