Erhöhte Nachfrage bei Diakonie-Beratungsstelle
"Kindern geht es anders als vor Corona"
Bretten/Region (ger) Wir leben in einer Dauerkrise: Pandemie, Ukraine-Krieg, Klimawandel und Inflation – damit wachsen Kinder und Jugendliche heute viel weniger unbeschwert auf als früher. Was macht das mit der jungen Generation? Wie geht es den Kindern und Jugendlichen gerade? Wir haben nachgefragt bei der Psychologischen Beratungsstelle des Diakonischen Werks. Das multiprofessionelle Team mit den Fachrichtungen Heilpädagogik, Psychologie und Sozialpädagogik berät kostenfrei Kinder, Jugendliche und Eltern bei Sorgen und Nöten.
Zunahme an psychischen Problemen
Im Gespräch mit Melanie Heinzel, Michael Diem, Susanne Rittmann und Patricia Böckle kristallisiert sich heraus, dass Corona und die Kindergarten- und Schulschließungen einen tiefen Einschnitt im Leben der jungen Menschen bedeutet haben. Der Beratungsbedarf ist über alle Altersstufen hinweg angestiegen. Ängste, Depressionen, Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten und suizidale Gedanken haben, so der Eindruck der Fachleute, zugenommen. Eine Zunahme an psychischen Problemen sei schon vor Corona zu beobachten gewesen, die Pandemie habe das aber beschleunigt und verstärkt.
"Die Übergänge haben gefehlt"
„Von hundert auf null“ sei das Leben durch die Lockdowns reduziert worden. Alle Routinen – Kindergarten- und Schulbesuch, Hobbys, Krabbelgruppen, Treffen mit Freunden – waren außer Kraft gesetzt. Umgekehrt sei wieder alles ebenso schnell hochgefahren. „Die Übergänge haben gefehlt“, resümiert Böckle. Wenn die Einrichtungen offen waren und auch Vereine wieder Angebote machen durften, verhinderten strenge Hygienekonzepte sanfte Eingewöhnungen, wie sie besonders für kleine Kinder wichtig seien: Mamas und Papas mussten draußen bleiben, durften ihre Kinder nur an der Tür abgeben. Für schüchterne Kinder und ängstliche Eltern eine große Hürde. „Da ist viel soziale Lernzeit verloren gegangen“, analysiert Rittmann. Die „Großen“ außerhalb der Familie nur mit Maske zu sehen, sei gerade für kleine Kinder sehr hinderlich gewesen, da für sie die Mimik des Gegenübers für den Vertrauensaufbau und den Spracherwerb sehr wichtig sei.
Fehlende Gruppenerlebnisse in Corona-Pandemie
Beim Sozialen-Kompetenz-Training für Fünf- bis Siebenjährige, das das Team in der Beratungsstelle anbietet, falle auf, dass es Kinder gibt, die gar nicht wissen, wie sie mit Gleichaltrigen in Kontakt treten sollen. Größeren Kindern und Jugendlichen hätten vor allem Gruppenerlebnisse wie Ausflüge oder Schullandheime gefehlt, die wichtig für die soziale Entwicklung sind. Vor allem zurückhaltende Kinder würden jetzt nicht wieder so leicht in den Alltag hineinspringen. „Zumal sie jetzt auf Institutionen treffen, denen es auch nicht gut geht“, sagt Rittmann und verweist auf den eklatanten Personalmangel an Kitas und Schulen. Auch seien nicht alle Stellen für Schulsozialarbeit besetzt.
Digitalisierung als Spagat für Schulen
Als ein zweischneidiges Schwert sehen die Fachleute das Thema Digitalisierung. Die Zeit, die Kinder und Jugendliche mit digitalen Medien verbringen, ist in der Pandemie stark angestiegen. Hintergrund ist dabei auch das Homeschooling, das übers Internet abgelaufen ist. Viele Eltern schafften es nicht, die Mediennutzung ihrer Kinder wieder auf Vor-Corona-Niveau einzudämmen. „Es ist ein Spagat, da die Schulen inzwischen ja auch mehr Digitales verlangen“, sagt Heinzel. Besonders Unterstufenschüler in ihrer Freizeit wieder von Bildschirmen zu trennen, sei ein schwieriges Unterfangen. „Die Kinder sagen, ich muss noch was für die Schule machen und dann erwischt man sie bei Youtube“, beschreibt Diem den Alltag.
"Ergoogelte" Diagnosen bei Beratungsstelle
Jugendliche treffen sich vermehrt digital, um gemeinsam zu „gamen“, also Computerspiele zu spielen. Dies wurde gerade in Coronazeiten eine bedeutsame Form, soziale Kontakte zu leben. Auch sich virtuell zu „daten“, ist für Heranwachsende schon ein Thema. Für Jugendliche, die noch wenig soziale Erfahrung haben, kann diese Form der Kotaktaufnahme ein Risiko darstellen, merkt Rittmann an. Die Masse an Informationen aus dem Netz zu filtern und einzuordnen, falle jungen Menschen oft schwer, zumal allgemeinbildende Inhalte während Corona in den Schulen weniger zum Tragen kamen. Außerdem kommt es vor, dass Jugendliche mit selbst „ergoogelten“ Diagnosen in die Beratungsstelle kommen und zum Beispiel sagen: „Ich habe eine Depression.“
Gewinner und Verlierer in Corona-Pandemie
Insgesamt böte sich ein gemischtes Bild. Viele Familien hätten die Zeit recht gut überstanden und es gebe auch Kinder, die vom Homeschooling profitiert hätten. „Den Kindern und Jugendlichen geht es anders als vor Corona“, bringt es Diem auf den Punkt. Die Beratungsstelle selbst hat ihr Angebot auch über die Lockdowns aufrechterhalten und sogar optimiert. So ist sie inzwischen über alle Kanäle erreichbar, auch Videoberatung ist möglich. Die meisten Ratsuchenden kämen aber am liebsten wieder persönlich zum Gespräch von Angesicht zu Angesicht, dank Homeoffice sind manche Eltern zeitlich sogar flexibler. Außerdem wurden manche Gruppen, die früher nur einmal die Woche stattgefunden haben, auf Ferienworkshops umgestellt, was durchaus gute Effekte habe.
"Die Eltern sollen gut für sich sorgen"
Wie kann man die junge Generation nun unterstützen? „Wer mit Kindern arbeitet, sollte genau hinschauen, was das einzelne Kind in dieser Übergangszeit braucht“, sagt Böckle. Die Kinder und Jugendlichen seien noch dabei, die Krisen zu verarbeiten und einen Umgang damit zu finden. Schulen, Kindergärten, Vereine und Freizeitträger stehen vor der Aufgabe, die jungen Menschen dabei zu begleiten. Um den Kindern wieder Stabilität und Sicherheit in den Familien zu bieten, sei aber vor allem eines zentral, so Diem: „Die Eltern sollen gut für sich sorgen, dann geht es auch den Kindern gut.“
Autor:Katrin Gerweck aus Bretten |
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