Expert*innen informierten: Welttag des Hörens 2023
Wie Cochlea-Implantate Hörgeschädigten ein neues Hören ermöglichen
„Eine Direktübertragung auf den Hörnerv“
Wie Cochlea-Implantate Hörgeschädigten ein neues Hören ermöglichen
Rund 450 Millionen Menschen leben nach Angaben des Deutschen Berufsverbands der Hals-, Nasen- und Ohrenärzte weltweit mit einer Hörschädigung1. Für Deutschland liegen keine genauen Zahlen vor, doch der Deutsche Schwerhörigenbund (DSB) geht von 13,3 Millionen Betroffenen über 14 Jahren aus. Rund 1,2 Millionen von ihnen sind laut DSB hochgradig oder an Taubheit grenzend schwerhörig2. Bei dieser Gruppe von Betroffenen ist der Hörverlust so weit fortgeschritten, dass Hörgeräte oft kein ausreichendes Hörverständnis mehr ermöglichen. In diesen Fällen kann ein Cochlea-Implantat eine Lösung sein. Für wen ein solches System infrage kommt, wie gut das Hörerlebnis mit einem CI ist und wie die Implantation erfolgt, dazu informierten Expertinnen und Experten in der Sprechzeit anlässlich des diesjährigen Welttags des Hörens. Hier die wichtigsten Fragen und Antworten in der Zusammenfassung:
Mit meinen beiden Hörgeräten höre ich zwar noch laut genug, aber ich verstehe kaum noch, was gesagt wird. Kommt für mich ein Cochlea-Implantat infrage?
Lars Clausen: Bei hochgradigen Innenohrschwerhörigkeiten und der damit verbundenen Schädigung der Haarsinneszellen erreichen Hörgeräte ihre Leistungsgrenze. Dann kann das Sprachverstehen nicht mehr gewährleistet werden, selbst wenn Geräusche noch gut hörbar sind. Ab diesem Zeitpunkt kann ein Cochlea Implantat eine Lösung für Sie sein. Um dies festzustellen, ist eine ausführliche Diagnostik mit audiologischen Messverfahren und einer Bildgebung erforderlich, um die Möglichkeit einer Implantation und den Ausblick auf den Hörerfolg mit Implantat einschätzen zu können.
Welche Voraussetzungen müssen für ein Cochlea-Implantat noch vorliegen?
Dr. med. Sandra Schmidt: Grundsätzlich kann ein Cochlea-Implantat nur dann erfolgreich eingesetzt werden, wenn die Hörschnecke und ein funktionsfähiger Hörnerv vorhanden sind. Alle weiteren Überlegungen sind Gegenstand der ausführlichen Diagnostik und individuellen Beratung im Vorfeld der Implantation.
Wie funktioniert ein Cochlea-Implantat?
Michael Willenberg: Im Prinzip einfach: Über das Cochlea-Implantat wird das Hören direkt auf den Hörnerv übertragen. Damit wird die Funktion defekter Haarsinneszellen in unserem Innenohr ausgeglichen. Das CI-System besteht deshalb aus zwei Komponenten – dem Soundprozessor, der die eintreffenden Schallwellen in digital kodierte Signale umwandelt und dem Implantat, das die kodierten Signale in elektrische Impulse umwandelt, die direkt die Hörnervenfasern stimulieren. Die so weiter geleiteten Impulse erzeugen im Gehirn den Höreindruck.
Wie ist das Hörerlebnis mit einem Hörimplantat?
Sebastian Thömmes: Das ist von Patient zu Patient unterschiedlich. Manchmal gelingt bereits bei der Erstaktivierung des Systems eine sofortige lautsprachliche Verständigung. In anderen Fällen nimmt der Patient zunächst einmal nur Geräusche wahr. Mit der Zeit – und der Anpassung der Einstellungen des Systems – wird das Hörverständnis immer besser. Die Erinnerung an das alte Hören verblasst und das Hören mit dem Implantat wird zur Normalität.
Erfordert das Einsetzen eine größere Operation am Kopf? Was sind die Risiken?
Dr. med. Sandra Schmidt: Die Implantation eines Cochlea-Implantats dauert etwa eineinhalb Stunden und ist heute ein sicheres und etabliertes Verfahren. Es ist jedoch wichtig zu wissen, dass in einer Region operiert wird, in der das Gleichgewichtsorgan und der Gesichtsnerv liegen. Dem Schutz dieser durch den Eingriff gefährdeten Strukturen gilt bei der Operation deshalb hohe Priorität. Daneben gelten die allgemeinen Risiken, die auf jeden medizinischen Eingriff unter Narkose zutreffen. Teil der Vorbereitung ist daher eine ausführliche Aufklärung der Patientinnen und Patienten vor der Implantation.
Wie geht es nach der OP weiter?
Lars Clausen: Ungefähr eine Woche nach der OP findet die Wundkontrolle statt und der Kopfverband kann in den allermeisten Fällen abgenommen werden. Etwa einen Monat nach der OP wird das Implantat in der implantierenden Klinik in Betrieb genommen und der Prozessor angepasst. Zu diesem Zeitpunkt erlebt der Patient die ersten Höreindrücke mit dem Implantat. Nach der sogenannten Erstanpassung erfolgt die weitere Betreuung in einem Rehazentrum, in dem regelmäßig Einstellungen, Messungen und Übungen mit dem CI durchgeführt werden.
Muss man Hören mit einem Cochlea-Implantat wieder neu lernen?
Lars Clausen: Je nach Vorgeschichte des betroffenen Ohres dauert es eine gewisse Zeit, bis sich das funktionelle Hören einstellt. Die Lautstärke muss in allen Frequenzbereichen stückweise wieder angehoben werden, bis der Patient eine akkurate Geräuschdetektion und später dann ein Sprachverstehen entwickelt. Die Dauer des Lautstärkeaufbaus und der Gewöhnung ist von Patient zu Patient unterschiedlich und wird in dem betreuenden Rehazentrum überwacht und dokumentiert.
Wie lange hält das Implantat? Muss es irgendwann ausgetauscht werden?
Michael Willenberg: Die Implantate sind für eine lebenslange Nutzung konzipiert. Sollte es aus technischen oder medizinischen Gründen erforderlich sein, kann ein Austausch des Implantats in Frage kommen. Entscheidend ist auch hier wieder die individuelle Situation und die Einschätzung aller beteiligten Disziplinen. Die außen am Kopf getragene Komponente – der Prozessor – kann natürlich ohne operativen Eingriff erneuert werden.
Werden beide Seiten mit einem Implantat versorgt?
Sandra Knell: Diese Frage muss immer individuell beantwortet werden. Die meisten Patienten entscheiden sich zunächst für eine einohrige Versorgung, auch wenn der Hörverlust beide Seiten betrifft. Etwa 70 Prozent der CI-Tragenden in Deutschland sind einseitig versorgt. Das andere Ohr wird oftmals mit einem Hörgerät versorgt, zumal die Betroffenen diese Art der Versorgung ja bereits kennen. Häufig entscheiden sich die Patientinnen und Patienten im späteren Verlauf, auch das zweite Ohr mit einem CI versorgen zu lassen.
Kann ein Cochlea-Implantat auch bei Kindern mit angeborener Hörschädigung eingesetzt werden?
Anja Eisenhut: In vielen Fällen ist dies möglich. Für die betroffenen Kinder bedeutet ein Hörimplantat die Möglichkeit, schon früh ein Hörverständnis zu erreichen, das wiederum Grundlage für eine gute Sprachentwicklung und damit die soziale Teilhabe ist. Voraussetzungen für die Versorgung sind eine ausführliche Diagnostik in einer HNO-Klinik sowie ausführliche Beratungs- und Aufklärungsgespräche durch HNO-Ärzte, Audiologen und Akustiker.
Welche Besonderheiten ergeben sich mit einem Hörimplantat im Alltag?
Sandra Knell: Die meisten Menschen mit einem CI kommen in Alltagssituationen gut zurecht. Außenstehende wundern sich häufig, wenn jemand offenbart, ein CI zu tragen. Mit den meisten CI-Tragenden kann man sich, auch in lauter Umgebung, gut unterhalten. Selbst unter akustisch schwierigen Bedingungen hilft die Technik, indem Automatikprogramme greifen. Zudem können Ansteckmikrofone in bestimmten Situationen die Qualität noch einmal verbessern. Auch das direkte Streamen von TV und Handy ist schon lange Standard.
Werden die Kosten für ein Cochlea-Implantat von der Krankenkasse übernommen?
Sebastian Thömmes: Die gesetzlichen Krankenkassen tragen nicht nur die Kosten für das Implantat und die Behandlung, sondern auch für notwendiges Zubehör und die Energieversorgung. Bei privaten Kassen hängt die Kostenübernahme vom Vertrag ab.
An wen kann ich mich wenden, um mehr über die Versorgung mit einem Hörimplantat zu erfahren?
Anja Eisenhut: Eine gute Anlaufstelle für eine Erstberatung ist Ihr betreuender Akustiker. Er kann auch den Kontakt zu HNO-Ärzten, HNO-Kliniken sowie Herstellern von Implantaten ermöglichen. Zudem bietet die Initiative „Ich will hören“ die Möglichkeit, sich unverbindlich über Hörimplantate zu informieren und sich mit Menschen auszutauschen, die bereits Erfahrung mit einem Cochlea-Implantat haben.
Die Expertinnen und Experten in der Sprechzeit waren:
• Lars Clausen; Audiologe, Audiologische Abteilung, Diagnostik, CI-Anpassung, Vivantes Klinikum im Friedrichshain Berlin
• Dr. med. Sandra Schmidt; Fachärztin für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Fachärztin für Stimm-Sprach- und kindliche Hörstörung, Palliativmedizin, Akupunktur, Allergologie, plastische Operationen, Leiterin des CI-Centrums Rhein-Mosel-Lahn des Bundeswehrzentralkrankenhauses Koblenz
• Anja Eisenhut; Hörgeräteakustik Meisterin, Pädakustikerin, Hörgefühl Stralsund
• Sebastian Thömmes; Ingenieur Hörakustik B.Sc., Hörgeräte Möller Gerolstein
• Sandra Knell; Hörakustik Meisterin, Pädakustikerin, CI-Akustikerin, Hörwelt Duisburg
• Michael Willenberg; Hör- und CI-Akustiker, Gromke Hörzentrum Leipzig
„Ich will hören“
Initiative zum Thema Hörverlust und Hörimplantate
Das Unternehmen Cochlear Deutschland hat mit seiner Initiative „Ich will hören“ eine Informationsplattform geschaffen, die sich an Menschen mit einer schweren Hörschädigung und ihr Umfeld richtet, wenn Hörgeräte nicht mehr ausreichen.
Auf der Website der Initiative lernen Betroffene die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten mit Hörimplantaten bei einem mittleren bis vollständigen Hörverlust kennen. Ein kurzer Selbsttest hilft bei der Einschätzung des eigenen Hörvermögens. Ausgebildete Experten informieren zu allen Fragen rund ums Thema; auf Wunsch teilen ehrenamtliche Hörpaten, die selbst ein Cochlea-Implantat tragen, ihre Erfahrungen mit Interessenten. Ziel der Initiative ist es, Betroffenen und ihren Angehörigen die Möglichkeiten aufzuzeigen, die sich mit dem Einsatz implantierbarer Hörlösungen ergeben, ihnen alle Fragen rund um diese Systeme zu beantworten und bei Bedarf an spezialisierte HNO-Kliniken für eine fundierte medizinische Diagnose zu vermitteln. Info: www.ichwillhoeren.de
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1 https://www.hno-aerzte-im-netz.de/krankheiten/schwerhoerigkeit/definition-und-haeufigkeit.html Seitenabruf vom 30.1.2023
2 https://www.schwerhoerigen-netz.de/statistiken/?L=0 Seitenabruf vom 30.1.2023
Autor:Kraichgau News Ratgeber aus Bretten |
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