Die Coronavirus-Pandemie aus juristischer Sicht
„Unbeschränkte Freiheit muss ihre Grenzen finden“
Bretten/Maulbronn (hk) Im Zuge der Coronavirus-Pandemie werden Grundrechte eingeschränkt – zum Beispiel das „Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit“, weil viele Dinge im Alltag wie der Besuch von Kinos, Theater, Museen nicht mehr möglich sind. Ob die Maßnahmen gerechtfertigt sind, hat die Redaktion der Brettener Woche/kraichgau.news bei zwei Juristen aus der Region in Erfahrung gebracht. Rede und Antwort standen der Redaktion die Rechtsanwälte Wilfried Lenz aus Maulbronn und Helmut Schwarz aus Bretten.
Auf welcher Grundlage wurden Grundrechte eingeschränkt?
Helmut Schwarz (HS): Für die überwiegende Anzahl der persönlichen und geschäftlichen Einschränkungen ist die gesetzliche Grundlage das Infektionsschutzgesetz des Bundes vom 1. Januar 2001. Gemäß Artikel 74 Absatz 1 Ziffer 19 Grundgesetz besteht für die Abwehr von gemeingefährlichen oder übertragbaren Krankheiten eine konkurrierende Gesetzgebung des Bundes und der Länder. Dies bedeutet, dass der Bund insoweit vorrangige Gesetzgebungskompetenz hat, wovon er Gebrauch gemacht hat. Mit Wirkung zum 28. März 2020 wurde das Infektionsschutzgesetz geändert. Dabei wurde dem Bundesminister für Gesundheit das Recht gegeben, umfassende Verordnungen in bestimmten Teilbereichen zu erlassen, die die Eindämmung der Epidemie bezwecken.
Wilfried Lenz (WL): Zweck des deutschen Infektionsschutzgesetzes ist es, übertragbaren Krankheiten vorzubeugen, Infektionen frühzeitig zu erkennen und ihre Weiterverbreitung zu verhindern. Dabei ist unerheblich, welcher Art die Infektion ist und auf welchem Wege die Infektion erfolgen kann. Der Artikel 74 Absatz 1 Nummer 19 Grundgesetz ermächtigt den Bund auch zu weiteren gesetzlichen Regelungen zur Vorbeugung wie Impfungen, Vorsorgeuntersuchungen, Meldepflichten oder Führen von Krebsregistern. Aber er begründet jedoch keine umfassende Gesetzgebungskompetenz im Bereich Gesundheitswesen für den Bund.
Sind die Einschränkungen mit dem Grundgesetz vereinbar?
HS: Gemäß Paragraph 17 Absatz 4 des neueren IfSG werden die Landesregierungen ermächtigt, Verordnungen zur Eindämmung der Pandemie zu erlassen, wie zum Beispiel Ausgangsbeschränkungen, Kontaktverbote, Schließungen von Einrichtungen, Gastronomie etc. Selbstverständlich können diese Verordnungen durch die zuständigen obersten Verwaltungsgerichte der Länder, so der VGH Mannheim in Baden-Württemberg, überprüft werden.
Entscheidend für die Einschätzungen der obersten Verwaltungsgerichte der Länder dürften dabei folgende Gesichtspunkte sein: a) Die Prüfung, ob die Maßnahmen geeignete Mittel zur Einschränkung darstellen, siehe Eilantrag zweier Gymnasialschüler in Ravensburg gegen die Maskenpflicht im Unterricht, welcher mit Beschluss vom 23. Oktober 2020 abgelehnt wurde. Hierbei wurde festgestellt, dass die Maskentragungspflicht im Unterricht eine geeignete Maßnahme darstellt. b) Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der Verfassungsmäßigkeit, das heißt Abwägung der jeweiligen entgegenstehenden Güter. Auch hierzu hat das Gericht im Schulmaskenfall erklärt, dass die Gefahrenabwehr höher einzustufen ist, als etwaige Unannehmlichkeiten der Schüler und Lehrer durch das Maskentragen. c) Gemäß Beschluss des VGH Mannheim vom 15. Oktober hat dieses dem Eilantrag von Urlaubern mit einem geplanten Urlaub in Ravensburg stattgegeben. Das hiesige Wirtschafts- und Sozialministerium hatte ein Beherbungsverbot von Gästen erlassen, welche aus Gebieten in Deutschland einreisen, die den Schwellenwert von 50 neu gemeldeten Covid-2 Fällen pro 100.000 Einwohner überschreiten.
WL: Bei all diesen Einschränkungen von Grundrechten ist besonders der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip gilt als ein grundlegendes Prinzip überall dort, wo zwischen widerstreitenden Interessen ein Ausgleich geschaffen werden muss. Als Sinnbild dieses Ausgleichs trägt Justitia, die Göttin des Rechts der alten Römer, immer eine Waage, die sich im Zweifel zum Schwächeren neigen soll. In diesem Spannungsfeld muss die Politik ihren Handlungsspielraum abschätzen. Naturgemäß kann es dabei zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen, ob Grundrechtseingriffe gerechtfertigt sind.
So wandte sich im April 2020 nach der Zwangsschließung von Kirchen in der Pandemie ein Katholik an das Verfassungsgericht in Karlsruhe mit dem Hinweis, dass hierdurch sein Seelenheil gefährdet wäre. Doch die Richter des Ersten Senats in Karlsruhe sahen keine Notwendigkeit, katholische Messfeiern in Corona-Zeiten zu erlauben. Ihr Argument: Gegenüber den Gefahren für Leib und Leben, vor denen zu schützen der Staat verpflichtet sei, müsse das grundrechtlich geschützte Recht auf die Feier von Gottesdiensten „derzeit“ zurücktreten. Sie fügten hinzu, dies gelte nicht für immer, sondern müsse immer wieder einer strengen Prüfung unterliegen, bei der zu untersuchen sei, ob ein Verbot von Gottesdiensten verantwortet werden könne angesichts neuer Erkenntnisse zur Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems. Insofern entscheiden die Gerichte stets im Einzelfall und durchaus bei vergleichbaren Sachverhalten manchmal unterschiedlich.
Die Freiheit des Einzelnen ist in einem liberalen Land unbegrenzt, solange sie nicht die Freiheit anderer mindert. Die Macht des Rechtsstaates ist dagegen prinzipiell begrenzt. Im alten preußischen Landrecht war alles verboten, was nicht ausdrücklich erlaubt war. Heute halten wir es umgekehrt und jeder Eingriff muss begrenzt und begründet werden.
Das höchste baden-württembergische Verwaltungsgericht hält das Beherbergungsverbot des Landes für verfassungswidrig. Wie bewerten Sie dies?
HS: Der VGH hat das Beherbergungsverbot gekappt, da es in unverhältnismäßiger Weise in das Freizügigkeitsgrundrecht gemäß Artikel 11 Absatz 1 Grundgesetz eingreift. Dieses drastische Mittel des Beherbergungsverbotes sei unverhältnismäßig, weil in den Beherbergungsräumen von Hotels und Pensionen keine besonders hohen Infektionsrisiken bestünden, im Gegensatz zu anderen Räumlichkeiten und Personenansammlungen. Wir selbst halten die erlassenen Entscheidungen des VGH Mannheim für korrekt und angemessen.
WL: Man kann sich immer wieder fragen, ob die Exekutive hierzulande in Corona-Zeiten den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit immer richtig im Blick hatte. Dies zeigen die sehr unterschiedlichen Entscheidungen der obersten Verwaltungsgerichte der einzelnen Bundesländer in der Frage des Beherbergungsverbotes. Das Hamburger Oberverwaltungsgericht (OVG) hat beispielsweise das Beherbergungsverbot bestätigt. Kölner Touristen hatten geklagt. Das OVG bestätigte eine Eilentscheidung des Verwaltungsgerichts: Die öffentliche Gesundheit sei wichtiger als Urlaub.
Entscheidend ist bei diesen Fragen immer, ob es objektive Kriterien gibt, welche die Entscheidungen rechtfertigen können. In Zeiten hoher Infektionszahlen kann eine Entscheidung auch nachträglich als richtig angesehen werden. Die Frage, was angemessen ist, ist aus prinzipiellen Gründen mit hoher Unsicherheit behaftet und hängt entscheidend von Wertentscheidungen, gesellschaftlichen Plausibilitäten und Evidenzen ab und ist zuletzt auf die Akzeptanz der Bürger angewiesen.
Frankreich verdankt die Welt die Grundsätze von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und damit die individuellen Grundrechte. Dem gegenüber ist jedoch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine Erfindung der deutschen Verwaltungswissenschaft und von Friedrich Schiller stammt das Zitat: „Was nicht verboten ist, ist erlaubt.“ Dennoch sind sich alle darüber im Klaren, dass unbeschränkte Freiheit ihre Grenzen finden muss.
Vor diesem Hintergrund war die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes in Mannheim zum Kippen des Beherbergungsverbotes richtig, da mildere Maßnahmen denkbar sind, um die Verbreitung des Virus durch Mobilität zu verhindern. Die Kunst der Politik besteht jedoch darin genau diese milderen Maßnahmen zu finden, ohne eine Gefährdung herbeizuführen. Daher ist zum Beispiel die Anordnung zum Tragen von Masken ein solch milderes Mittel.
In welchem Rechtsbereich ist die Situation derzeit besonders kritisch?
WL: Auch hier geht es wieder um die Verhältnismäßigkeit. Der sprunghafte Anstieg von Suiziden durch den „Lockdown“ und die fortdauernde Zerstörung wirtschaftlicher Existenzen müssen gegen die Maßnahmen abgewogen werden. Dies geschieht viel zu wenig, obwohl es auch hier um Gesundheit und Menschenleben geht.
Nutzen und Schaden einer Maßnahme sorgfältig abzuwägen ist jedoch unerlässlich und erfordern jenen unglaublichen Weitblick, den wir an manchen Politikern schätzen, aber anderen gnadenlos absprechen. Schaut man nach China, soweit eine objektive Einschätzung überhaupt möglich ist, so hat man dort das Virus scheinbar im Griff. Aber wer wäre bereit diesen Preis zu bezahlen und dafür alle gewohnten Rechte aufzugeben. Solange bleibt immer nur Versuch und Irrtum und endlose Debatten.
Autor:Havva Keskin aus Bretten |
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