Leserbrief zum Umgang der Regierung mit der Corona-Krise
"Falsche Priorisierung der Lockerungen"

"Ich folge keiner Verschwörungstheorie. In meiner Wahrnehmung ist dieses Virus existent und undiskutabel, dass weitreichende Maßnahmen zunächst getroffen werden mussten, um dem Ausbruch Herr zu werden und den unbekannten Feind „kennenzulernen“, ohne die Gefahr eines Massensterbens einzugehen. Dafür hatten wir nun einige Wochen Zeit. Was die Regierung allerdings gerade daraus macht, sollte so langsam aber sicher auch wieder kritischer beäugt und auch von uns Bürgern hinterfragt werden.

Denn die doch hochgelobte funktionierende Demokratie, die kein Ausrufen des Notstandes bedarf (was ich absolut befürworte), lebt nun auch davon, dass sich das Volk einmischt, kritisiert, hinterfragt und die Regierung dazu auffordert, in seinem Auftrag zu handeln. Ja, ich bin kein Experte in keinerlei Hinsicht der aktuellen Situation. Aber ich bin Mutter einer zweijährigen Tochter, Arbeitnehmerin in Vollzeit, Tochter, Schwester, Tante und Freundin und wahlberechtigte Bürgerin der BRD und somit ein Teil des Ganzen. Warum ich nun diesen öffentlichen Weg gehe, ist meine Auffassung der falschen Priorisierung der Lockerungen.

Generell ist zu sagen, dass ich es für durchaus richtig finde, keine sogenannten Risikogruppen zu isolieren und die Regeln für alle geltend zu machen, aber dass wir die Kleinsten in unserer Gesellschaft in der Diskussion offensichtlich nach hinten schieben, führt bei mir zu immer größer werdendem Unmut. Denn obwohl sie es am wenigsten verstehen können, dass sie niemanden außer Mama und Papa sehen dürfen, mit niemandem spielen dürfen, auf einmal zu Hause Schule haben und zu Teilen ihren überforderten Eltern hilflos ausgesetzt sind, werden sie in dieser Krise meines Erachtens völlig vernachlässigt. Es wird ihnen unterstellt, die Keimschleudern schlecht hin zu sein. Wissenschaftliche Evidenzen dazu werden nun nach sieben Wochen in einer Studie in Angriff genommen! Nach sieben Wochen! Die Schließung der Schulen und Kitas war auf fünf Wochen angesetzt. Was wurde angenommen? Dass das Virus von heute auf Morgen einfach verschwinden wird? Warum wurde das nicht priorisiert untersucht? Wo doch unsere Wirtschaft davon abhängig ist, dass Eltern arbeiten gehen können.

Wie aber sollen wir einen Mehrwert zur Wirtschaft beitragen, wenn wir zwischen Windel wechseln, Trostpflaster verteilen, Schulaufgaben erklären und Streitereien schlichten, im Homeoffice unsere Arbeit leisten sollen. Ich frage mich, wie viel Stunden ein Tag haben soll, um all diesen Anforderungen gerecht zu werden. Und ja, für eine gewisse Zeit ist das, mit ein paar Einschränkungen, durchaus möglich. Zähne zusammenbeißen und durch. Aber mit Sicherheit kann das keine Lösung für ein halbes Jahr sein. Mir erschließt sich auch nicht, wie wir unsere Kinder aufs Abstellgleis stellen können, gleichzeitig über aberwitzige Quadratmeterregelungen streiten und vor Gericht ziehen und priorisieren, welche Rettungspakete für sämtliche Wirtschaftszweige geschnürt werden können. Wo ist das Rettungspaket für unsere Renten – also wo bleiben denn die Hilfen für Familien und vor allem für unsere Kinder? Warum ist der Bund nicht in der Lage, genauso schnell Budget bereitzustellen für die schnelle Digitalisierung des Schulsystems (Ja, das ist Ländersache, aber wenn das Geld vom Bund käme, wäre das meines Erachtens ein richtiges Signal). Wie können wir uns nach der Krise noch erklären lassen, dass Homeschooling strengstens verboten ist, es aber derzeit über weitere Wochen oder gar Monate von den Eltern erwarten, gar dazu verpflichten?

Wo ist der Grundsatz von sozialer Gerechtigkeit? Denn ja, davon bin ich absolut überzeugt, die Kinder haben nun nicht mehr alle die gleichen Chancen. Nicht aufgrund von unmotivierten Eltern, denn selbst wenn Eltern mit Migrationshintergrund hervorragend integriert sind und sie auch schon deutsch gelernt haben, wird es ihnen mit Sicherheit nicht gleichermaßen möglich sein, den Schulstoff so zu vermitteln, wie Eltern, die Deutsch als Muttersprache sprechen. Aber was ist mit der sozialen Gerechtigkeit für Kinder, die in schwierigen familiären Verhältnissen leben, wo das Geld bereits vor der Krise knapp war, die darauf angewiesen waren, zumindest in einem Schul- oder Kindergartenalltag Struktur und Regeln zu erfahren oder gar regelmäßige Mahlzeiten zu erhalten? Und wo ist die soziale Gerechtigkeit, wenn eine Mutter in einem nicht systemrelevanten Bereich einen Kindergartenplatz zurückbekommt, eine Mutter, die aber in einer systemkritischen Funktion im Homeoffice Vollzeit arbeitet, keinen Kitaplatz zurückbekommt? Ich werde auch nach langer Recherche wohl keinen finden, der im Homeoffice wie gewohnt solide Arbeit abliefern kann.

Reden wir nun die ganze Zeit von Systemrelevanz oder nicht? Ja, es bedarf Regelungen und Vorgaben in dieser Krise und manchmal kann dies ungerecht werden. Aber wir sollten wirklich langsam aber sicher (und meines Erachtens nun doch nicht mehr so langsam) für die Kinder weitere Lockerungen vollziehen oder weitere Konzepte ausdenken. Kann eine Sporthalle nicht beispielweise so abgetrennt und bauliche Maßnahmen getroffen werden, dass ein Kindergarten seine Räumlichkeiten einfach dorthin ausweitet, sodass ein Erzieher die maximale Gruppengröße unter hygienischen Voraussetzungen betreuen kann? Wir können Krankenhäuser in Messehallen umbauen aber keine weiteren Interimslösungen für Betreuungsräume schaffen? Wo ist das innovative Denken unserer Politiker, wenn es um unsere Kinder geht? Ein leiser Aufschrei unserer Familienministerin nach sieben Wochen in der Krise ist alles, was ich nun als Aufmerksamkeit für unsere Kinder in den Medien wahrgenommen habe.

Es kann einfach nicht sein, dass wir über Geisterspiele in der Bundesliga reden und Testkapazitäten (auch wenn sie von den Vereinen privat finanziert werden würden) zur Verfügung stellen, die in Schule und Kitas zu einem Hauch Normalität führen könnten. Denn was spricht dagegen, Kinder und Jugendliche regelmäßig zu testen, um einen weiteren Ausbruch zu vermeiden? Es kann einfach nicht sein, dass wir über die Öffnung der Gastronomie reden, in der sicher die Infektionskette bei Weitem nicht so gut nachvollzogen werden kann, als in einem strukturierten und geregelten Schul- und Kita-Ablauf. Wer soll denn noch zur Mittagspause essen gehen, wenn alle im Homeoffice eingesperrt sind?

Wer soll sich denn bitte auf ein Glas Wein im netten Designerbistro treffen wollen, nachdem er zwölf Stunden unter anderem Kinder unterrichtet, Kleinkinder bespaßt, gekocht, gewaschen und nebenbei noch im Homeoffice gearbeitet hat? Dazu kommt, wer soll denn dort zusammenkommen, wenn es verboten ist, sich zu treffen? Es kann einfach nicht sein, dass wir Milliarden ausgeben, um die Wirtschaft zu retten, ohne dabei Acht zu geben, dass unsere wohl meist Geliebten nicht auf der Strecke bleiben
Wir dürfen nicht wie gewohnt protestieren und sobald eine kleine Kritik an der aktuellen Entscheidungspolitik laut wird, gilt man als Verschwörungstheoretiker. Das bin ich mit keinem Deut. Ich fordere lediglich schnellere, effizientere Lösungen für Eltern, die mittlerweile doppelt, wenn nicht gar drei- und vierfach belastet sind. Ich fordere Priorisierung und schnelle Ergebnisse der Studie, inwieweit unsere Kinder tatsächlich infektiös sein können. Ich fordere weitreichendere Regelungen und Öffnungen der sogenannten Notbetreuung auch für Eltern im Homeoffice, denn die geschaffenen Kapazitäten für die Kitas sind bei Weitem nicht ausgeschöpft. Ich fordere innovative Lösungen für das Homeschooling, um die Chancengleichheit wieder zu gewährleisten. Ich fordere eine offene, durchsichtige und vor allem nachvollziehbare Entscheidungspolitik hinsichtlich unserer Kinder und der Familien. Unsere Familienministerin Frau Giffey fordere ich dazu auf, eine größere Bühne für sich und ihr Resort zu schaffen.

Abschließend sei gesagt, dass es in dieser Krise wohl keinen gibt, der nicht in irgendeiner Weise davon betroffen ist, mit Einschränkungen im Alltag umgehen zu müssen. Ich möchte auch nicht wertend über Arbeitsplätze reden. Das Wort „systemrelevant“ mag in 2021 als Unwort des Jahres in die deutsche Geschichte eingehen, denn das unterscheidet deutlich zwischen wichtig und unwichtig. In meine Stellungnahme fließt selbstverständlich Subjektivität ein, denn ich bin kein Journalist. Ich erörtere meine Situation und fordere für die Gruppe „Eltern“ mehr Aufmerksamkeit." 

Ramona Schober
Bretten-Neibsheim

Autor:

Kraichgau News aus Bretten

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