Vom Berliner Untergrund in die Klosterstadt
Kunstsammlung Heinrich zeigt Berliner Kunst vor dem Mauerfall

Kein Werk aus den Jahren vor dem Mauerfall, aber nicht weniger ausdrucksstark: Kunstsammler Manfred Heinrich vor einem Bild des Berliner Künstlers Matthias Gálvez.  | Foto: kuna
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  • Kein Werk aus den Jahren vor dem Mauerfall, aber nicht weniger ausdrucksstark: Kunstsammler Manfred Heinrich vor einem Bild des Berliner Künstlers Matthias Gálvez.
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Maulbronn (kuna) Gespalten, zerrissen und ungehorsam – vor dem Mauerfall agierte in Berlin eine rege künstlerische Subkultur, die sowohl in Ost als auch in West in ihrem Drang nach Innovation und dem Bruch mit dem System nach neuen Ausdrucksformen suchte. Rebellen, Dissidenten und Nonkonformisten schufen Werke, mit denen sie sich einen Platz in der neueren deutschen Kunstgeschichte gesichert haben – und in der Kunstsammlung Heinrich in Maulbronn.

Kunst aus Ost- und West-Berlin

Berlin in den 1980ern, der Schauplatz: das Café Mora in Kreuzberg. Manfred Heinrich aus dem Schwabenland ist regelmäßig zu Besuch, um die Kunstschaffenden aus Ost und West zu treffen. Allen gemeinsam ist ihr Duktus gegen das System und gegen die akademischen Gepflogenheiten. In Maulbronn, Luftlinie 500 Kilometer entfernt, baut der Bauunternehmer und Ingenieur, der durch seine wiederkehrenden Aufenthalte im Schmelztiegel Berlin zum festen Bestandteil dieser Subkultur wird, eine beachtliche Sammlung auf, die einen unvergleichlichen Blick in dieses Kapitel der deutschen Kulturgeschichte bietet.

83-Jähriger konzipiert Ausstellung neu

Seit 2014 ist die Kunstsammlung, die Manfred Heinrich gemeinsam mit seiner Frau Jutta aufgebaut hat, im Maulbronner Schafhof für die Öffentlichkeit zugänglich. Vor wenigen Wochen hat der 83-Jährige die Ausstellung neu konzipiert und widmet sich der existentiellen Frage: "Wer bin ich?". Zwei Jahre habe er an dem Konzept gefeilt, erklärt er. Dafür hat er sich der erneuten Betrachtung seiner gesammelten Werke gestellt, die für ihn voller persönlicher Geschichten und Begegnungen mit den Berliner Künstlern stecken.

Porträtfotos zeigen die Künstler selbst

Heinrich konzentriert sich auf (Selbst-)Porträts der Kunstschaffenden, zeigt sie gemeinsam mit ihren charakteristischen Werken und ergänzt sie mit einer Reihe von Porträt- und Atelierfotos, aufgenommen von dem Berliner Fotografen Eric Tschernow. Die Idee: "So können die Besucher sehen, wie die Künstler, die diese Werke geschaffen haben, eigentlich selbst aussehen", so Heinrich.

Heinrich erwarb die Werke direkt aus den Ateliers

Zu finden sind da der exzessiv rauchende Walter Stöhrer, den Pinsel schwingend im Atelier, der nachdenklich dreinschauende Lutz Friedel, gehalten in Schwarz-Weiß, oder Johannes Grützke, schelmisch grinsend. Die persönliche Bindung, die Heinrich über all die Jahre zu den Künstlern aufgebaut hat, war Anlass, den Besucherinnen und Besuchern zeigen zu wollen: Das sind sie, die Künstler, so sehen sie aus. Immerhin hat Heinrich die Werke von den damals noch jungen Rebellen – die anfangs nicht die Gewissheit hatten, ob sie von ihrer Kunst überhaupt jemals leben können – immer direkt aus den Ateliers erworben und nur wenige Bilder aus Galerien gekauft.

Erstes Bild mit 18 Jahren gekauft

Schon in jungen Jahren kam Heinrich zu seiner Leidenschaft des Kunstsammelns. Sein erstes Bild erwarb er, als er 18 Jahre alt war – ein Marc Chagall. Das nötige Kleingeld musste er als junger Erwachsener mühsam zusammentreiben, der Stuttgarter Galerist Dr. Valentien gab ihm dafür ein Jahr lang Zeit. "Ich habe mein Fahrrad verkauft, meine Kamera und meine studentischen Arbeiten", erinnert sich Heinrich.

Schwerpunkt auf Berlin entwickelt sich durch Zufall

Der Schwerpunkt auf die zeitgenössische Berliner Kunst entwickelte sich dann aus dem puren Zufall heraus: 1984 trifft Heinrich den befreundeten Galeristen Willy Asperger im Maulbronner Klosterhof, der ihn auffordert, am nächsten Tag mit ihm nach Berlin zu reisen, "wenn du ein Kerle bist." Ein Satz, den er sich nicht zweimal sagen lässt.

Viele Künstler aus Kanon der deutschen Kunst nicht wegzudenken

Bei seinen vielen Stippvisiten in den Berliner Ateliers hat Heinrich schließlich ein gutes Auge bewiesen: Viele Künstler sind aus dem Kanon der deutschen Kunst heute nicht wegzudenken. Denke man nur an Johannes Grützke, der größere Bekanntheit erreichte für sein monumentales Werk in der Paulskirche in Frankfurt, in der 1849 die Frankfurter Nationalversammlung die "Verfassung des Deutschen Reiches" verabschiedet hat. Fleischige Körper formen satirische Gebilde des Menschen, auch Grützke nimmt sich selbst davon nicht aus und bildet sich mit einer gehörigen Portion Augenzwinkern in seiner ganzen unästhetischen Nacktheit ab.

Wolfgang Petrick dagegen, der mit finsteren und dystopischen Szenerien die Abgründe der Nachkriegszeit auch Jahrzehnte später greifbar macht, zeigt dem Betrachter die schonungslose Unbarmherzigkeit der Welt, die in der von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufenen "Zeitenwende" kaum etwas an Aktualität eingebüßt hat.

DDR-Kunst mit politischer Komponente

Wer bin ich? Wer kann ich in dieser Welt sein? Für Ost-Berliner wie Hans-Hendrick Grimmling verbindet sich diese Frage unweigerlich mit einer politischen Komponente. Der DDR-Künstler, der sich entschlossen der Formensprache des Sozialistischen Realismus verweigert hat, lässt mit seinem wiederkehrenden Vogelmotiv mythologische Szene wieder aufleben, etwa die Geschichte von Daedalus und Ikarus. Zugleich verweist der Vogel auf den Freiheitswillen, den Drang nach Flucht, Aufbruch und Unabhängigkeit. Ein Werk wie "Die Umerziehung der Vögel", bei dem düstere und monumentale Gestalten an den Extremitäten von Vögeln zerren, sie verdrehen und verbiegen, bedarf angesichts des historischen Kontextes von Ost-Berlin vor dem Mauerfall wohl keiner weiteren Erläuterung mehr.

Ausstellung mit persönlicher Note

Die Liebe für die Kunst, die untrennbarer Teil seines Lebens ist, überträgt Heinrich mit Leichtigkeit auf die Besucher seiner Sammlung. Die Beziehung zwischen den Kunstwerken und den Porträtfotos unterstreicht die persönliche Note der Ausstellung und legt offen, dass es dem Sammler-Ehepaar immer nur um die Leidenschaft für die Kunst ging und nicht etwa um die Spekulation auf Wertsteigerung der Objekte – eine These, die Heinrich vehement ablehnt. „Die Frage: ‚Wer bin ich?‘ kann man auf die Künstler, aber ebenso auf mich, den Sammler, anwenden“, erklärt der 83-Jährige.

Sammlung ist Stiftung der Stadt Maulbronn

Für ihn käme es nie in Frage, eines seiner Werke zu verkaufen. Aus diesem Grund haben seine erst vor kurzem verstorbene Frau Jutta und er, nach langem Hin und Her, im Jahr 2012 für die Sammlung die Form der Stiftung gewählt und diese an die Stadt Maulbronn übergeben. So bereichert die Kunstsammlung die Klosterstadt mit einem wahren Schatz, der einen unvergleichlichen Blick auf eine Berliner Kunstszene wirft, die in der geschäftigen Metropole eher im Verborgenen umtriebig war und in den Heinrichs brennende Liebhaber gefunden hat.

Verschiedene zeitgenössische Strömungen

In den historischen Gemäuern des sanierten Schafhofes treffen verschiedenste zeitgenössische Strömungen aufeinander, der Neoexpressionismus, der Kritische Realismus und die "Jungen Wilden", die sich – wenn auch in unterschiedlicher formaler Herangehensweise – mit einem scharfen Blick auf das Selbst vereinen. Schritt für Schritt treffen die Besucher sowohl auf abstrakte Werke als auch auf realistische Figurationen. "Ich habe immer nur das gesammelt, von dem ich wusste, dass die Werke noch in vielen Jahren dieselbe Begeisterung in mir auslösen werden", erklärt Heinrich. Für die aktuelle Ausstellung hat er nun 80 Arbeiten von fünf Künstlerinnen und 22 Künstlern zusammengetragen.

Aufatmen und staunen im dritten Stockwerk

Und wer nach den Schreckensszenen und Dystopien eine Pause braucht, für den hat Heinrich das dritte Stockwerk als eine Art Ruhepol hergerichtet. Gezeigt werden dort Werke aus der jüngeren Sammlerzeit der Heinrichs, darunter die rätselhaften Werke von Matthias Gálvez, Hyperrealistisches von Philipp Weber oder traumartige Schwarz-Weiß-Szenen von René Wirths. "Hier kann man aufatmen und staunen", beschreibt es der Kunstsammler. 

Information:
Die Kunstsammlung Heinrich befindet sich im Schafhof 2 in Maulbronn und ist immer sonntags von 13.30 bis 17 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt drei Euro, Kinder und Schüler sind frei. Führungen mit Sammler Manfred Heinrich gibt es immer am ersten Donnerstag im Monat ab 18 Uhr und mit der Kunsthistorikerin Dr. Elke Pastré immer am dritten Sonntag im Monat ab 15 Uhr. Anmeldung über die Info-Zentrale der Stadt Maulbronn unter 07043 103 0.

Autor:

Kathrin Kuna aus Bretten

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