Expert*Innen informierten zu: Schwerhörigkeit
„Hörverstehen auch bei lauter Umgebung wieder möglich“
Wie Cochlea-Implantate bei schwerer Hörschädigung helfen
Die Versorgung von Menschen mit einer schweren Hörschädigung richtet sich vor allem nach der Form ihrer Schwerhörigkeit. Während ein Hörgerät vor allem die Lautstärke des Gehörten anhebt, kann ein Cochlea-Implantat die Qualität der akustischen Wahrnehmung verbessern. Dazu wandelt es Schallwellen in elektrische Impulse um, die im Innenohr direkt an den Hörnerv übertragen werden. Was Betroffene über die Versorgung ihrer Schwerhörigkeit wissen sollten und wann ein Cochlea-Implantat eingesetzt werden kann, dazu informierten Expertinnen und Experten in der Sprechzeit anlässlich des Welttags des Hörens. Die wichtigsten Fragen und Antworten in der Zusammenfassung:
Wann spricht man von einer schweren Hörschädigung – und wie wird sie festgestellt?
Priv.-Doz. Dr. med. Nora Weiss: Schwerhörigkeit wird durch einen standardisierten Hörtest diagnostiziert. Je nach Hörverlust werden dabei verschiedene Schweregrade unterschieden. Von einer hochgradigen Schwerhörigkeit spricht man ab einem Hörverlust von etwa 60dB. Das bedeutet, dass man den Gesprächspartner bei normaler Sprechlautstärke nicht mehr richtig verstehen kann.
Innerhalb kurzer Zeit musste mein Hörgerät immer lauter eingestellt werden. Trotzdem kann ich immer weniger verstehen …
Sascha Kelz: Zunächst sollte Ihr betreuender Hörakustiker ausschließen, dass ein Defekt am Hörsystem vorliegt, zum Beispiel Verschleißerscheinungen an den Mikrofonen oder am Lautsprecher. Sind technische Ursachen ausgeschlossen, sollte eine fachärztliche Untersuchung erfolgen und bei Bedarf die Überweisung in eine Klinik veranlasst werden. Hier kann eine gründliche Diagnose mit ausgiebigen Tests erfolgen, um die weitere Vorgehensweise abzustimmen.
Ich merke zunehmend, dass die Leute um mich sehr undeutlich und nuschelnd sprechen. Kann das eine Folge meiner Hörbeschwerden sein?
Priv.-Doz. Dr. rer. nat. Matthias Hey: Die Schwerhörigkeit führt dazu, dass das gesamte Hören leiser und weniger klar wird. Oftmals fehlen gerade die hohen Töne, die für die Konsonanten wie D und T, G und K charakteristisch sind. Für Betroffenen klingt Gesprochenes dadurch undeutlich und verwaschen. Wichtig ist hier eine detaillierte Diagnostik des Hörstatus als Basis für die weitere Therapie mit konventionellen Hörgeräten oder Hörimplantaten.
Wann ist ein Hörgerät die richtige Lösung, wann ein Cochlea-Implantat?
Prof. Dr.-Ing. Dr. rer. med. Ulrich Hoppe: Hörgeräte helfen gut bei leichtgradigen und mittleren Hörverlusten. Wenn jedoch die Hörschädigung zu ausgeprägt ist, kann nur ein Cochlea-Implantat das Hören ausreichend verbessern und Sprache wieder verständlich machen. Ein erster Hinweis im Alltag könnte zum Beispiel sein, dass auch mit Hörgerät der Fernseher noch sehr laut eingestellt ist.
Wie funktioniert ein Cochlea-Implantat?
Marcus Nartschik: Das Cochlea-Implantat besteht aus zwei Teilen, einem äußeren und einem inneren, implantierten Teil. Deshalb sprechen wir von einem Cochlea-System, kurz CI-System. Der äußere Teil besteht aus einem Mikrofon in einem Soundprozessor, der Schallsignale in elektrische Signale umwandelt. Diese werden von einer Sendespule auf der Kopfhaut drahtlos an eine Empfängerspule unter der Kopfhaut übertragen. Diese wiederum ist mit einer Elektrode im Innenohr verbunden, die die Funktion der geschädigten Hörschnecke – medizinisch Cochlea – ersetzt. Von dort werden die Signale direkt an den Hörnerv und weiter ins Gehirn übertragen. Vereinfacht gesagt sorgt ein CI-System für eine Direktübertragung von Signalen an den Hörnerv.
Ist das Hörerlebnis mit einem CI-System anders als mit einem Hörgerät?
Dan Hilgert-Becker: Gleich mit Beginn der Erstanpassung des CI-Systems erleben die Patientinnen und Patienten viele neue Höreindrücke – viele erstmals überhaupt seit langer Zeit! Anfangs klingt das CI für manchen noch „elektronisch", doch durch aktives Hörtraining stellt sich mit der Zeit ein normales Klangerlebnis ein. Selbst nach rund 20 Jahren Praxis in der Anpassung von CI-Systemen ist es berührend, wenn die Patientinnen und Patienten Sprache wieder verstehen können und vermeintlich selbstverständliche Dinge wie Telefonieren wieder möglich werden.
Kann es sinnvoll sein, Hörgerät und Cochlea-Implantat zu kombinieren?
Univ.-Prof. Dr. med. Andreas Radeloff: Ja, es sollten immer beide Ohren optimal versorgt sein. Bei einem unterschiedlich stark ausgeprägten Hörverlust ist daher eine Kombination aus Hörgerät und Cochlea-Implantat sinnvoll. Die beiden Geräte sollten dann in ihren Einstellungen aufeinander abgestimmt werden. Kombinationen aus zwei Cochlea-Implantaten oder einem Cochlea-Implantat mit einem normal hörenden Ohr sind ebenfalls möglich.
Ist die Implantation eines CI aufwendig? Welche Risiken bestehen?
Univ.-Prof. Dr. med. Andreas Radeloff: Die CI-Operation ist eine stark standardisierte und sehr sichere Operation, die an spezialisierten Zentren häufig durchgeführt wird. Der Eingriff dauert etwa 90 Minuten, erfolgt unter Zuhilfenahme eines Operationsmikroskops und weiterer technischer Systeme. Der Eingriff ist zwar technisch aufwendig, für die Patientinnen und Patienten aber wenig belastend. Seltene Komplikationen sind das Auftreten von meist vorübergehendem Schwindel oder einseitigen Geschmacksstörungen sowie eine Schädigung des Gesichtsnervs. Letzteres ist in spezialisierten Zentren äußerst selten – da der Operateur durch ein sogenanntes Nervenmonitoring alarmiert wird, wenn eine Präparation nah am Gesichtsnerv erfolgt.
Wie lange dauert es, bis man das Hören mit einem CI-System gelernt hat?
Priv.-Doz. Dr. rer. nat. Matthias Hey: Meist versteht man nach dem ersten Einschalten des neuen Hörsystems schon die ersten Worte. Das Ohr hat jedoch bei der Mehrheit der Patienten in den letzten Jahren wenig bis gar nichts gehört. Es ist also zunehmend untrainiert und die Patienten tun sich anfänglich mit den neuen Höreindrücken schwer. Es dauert oftmals mehrere Monate, bis sich das Ohr wieder an gutes Verstehen gewöhnt und das neue Hörsystem in seiner vollen Leistung genutzt werden kann. Hierzu bieten die einzelnen CI-Zentren Programme an, die Betroffene beim Erlernen des „neuen Hörens“ möglichst effektiv unterstützen.
Zu meinem letzten Hörgerät musste ich viel zuzahlen. Wie ist die Kostenübernahme bei einem Cochlea-Implantat geregelt?
Michael Willenberg: Für Hörgeräte zahlen die gesetzlichen Krankenkassen bei vorliegender Indikation und Verordnung einen Festbetrag. Wenn Kunden zusätzliche Ausstattungsmerkmale nutzen möchten, können Zuzahlungen erforderlich werden. Anders ist das bei Cochlea-Implantaten, da diese keine Hilfsmittel, sondern Teil einer Therapie sind. Liegt hier die eindeutig in Leitlinien definierte Indikation vor, werden die Kosten der Versorgung, die neben dem operativen Eingriff auch aus
umfangreichen Rehabilitationsmaßnahmen bestehen, von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen.
Benötigt man zum Fernsehen oder Telefonieren zusätzliche Geräte?
Petra Andres: Viele CI-Trägerinnen und -träger nutzen beim Fernsehen ein Zubehör zur Übertragung der TV-Signale direkt in den Sprachprozessor und genießen so ein entspanntes Verstehen. Neue Prozessoren ermöglichen die Einbindung eines Smartphones via App. So wird störungsfreies Telefonieren oder das Streaming von Musik, Hörbüchern oder Podcasts direkt in das CI möglich. Die leicht zu bedienende App erlaubt zudem eine Anpassung des CI-Systems an unterschiedliche Hörsituationen. Informieren Sie sich, ob Ihr Prozessor diese Funktionen bereits bietet oder ein Umstieg auf einen aktuelleren Prozessor möglich ist.
Ich stehe vor der Entscheidung, ein CI-System implantieren zu lassen. An wen kann ich mich wenden, um dabei Unterstützung zu erhalten?
Priv.-Doz. Dr. med. Nora Weiss: Die Beratung hinsichtlich der medizinischen und technischen Aspekte, also beispielsweise der Chancen und Erwartungen oder welches Implantat für Sie das richtige ist, findet in der Regel über spezialisierte Zentren statt. Wo eigens für die Versorgung mit Cochlea-Implantaten zertifizierte Zentren zu finden sind, listet die Deutsche Gesellschaft für HNO-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie unter www.hno.org auf. Wenn es eher darum geht, was es im Alltag zu beachten gibt oder wie sich das Hören mit einem Implantat anfühlt, kann der Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe hilfreich sein. Informationen dazu gibt es bei der Deutsche Cochlea Implantat Gesellschaft unter www.dcig.de.
Was versteht man unter einer „Hör-Rehabilitation“?
Prof. Dr.-Ing. Dr. rer. med. Ulrich Hoppe: Eine Hör-Rehabilitation zielt darauf ab, Sprachverstehen und Hörgefühl mit dem Cochlea-Implantat zu verbessern. Es findet in der Phase statt, in der die Geräte eingestellt werden und man jeden Tag ein Stück weit besser hört. Über die technischen Einstellungen hinaus geht es dabei um Hörübungen und Anleitungen, wie man im Alltag besser hören kann. Die Hör-Rehabilitation kann von mehreren Wochen bis zu mehreren Monaten dauern, je nachdem, wie intensiv das Hören trainiert werden muss.
Wie kann ich als Trägerin eines CI die Verständigung in Gruppen verbessern, zum Beispiel bei Familientreffen?
Marcus Nartschik: Sie können zum Beispiel ein zusätzliches Mikrofon nutzen, das ein barrierefreies Verstehen und Hören über längere Distanzen ermöglicht. Das externe Mikrofon nimmt die Stimme auf und überträgt sie drahtlos direkt in das CI-System. Dabei filtert es nicht nur Störgeräusche heraus, sondern verbessert zusätzlich das Hören auf weite Distanz. Es kann wahlweise als Rundum-Mikrofon auf den Tisch gelegt werden oder von einem Sprecher als Ansteck-Mikrofon getragen werden. Nicht zuletzt lassen sich solche Zusatzgeräte auch via Mobiltelefon und App an das CI-System koppeln, was weitere Funktionen und Einstellungen ermöglicht.
Die Expertinnen und Experten dieser Sprechzeit waren:
• Petra Andres; Hörakustik-Meisterin, CI-Akustikerin, Pädakustikerin; HörStudio Andres; Hamburg
• Priv.-Doz. Dr. rer. nat. Matthias Hey; Audiologe; Leiter der Audiologie an der Klinik für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie, Phoniatrie und Pädaudiologie; Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel
• Dan Hilgert-Becker; Hörakustikmeister- Hör-Implantat-Spezialist, BECKER Hörakustik; Bonn
• Prof. Dr.-Ing. Dr. rer. med. Ulrich Hoppe; Professor für Audiologie; Leiter der Abteilung Audiologie an der Hals-Nasen-Ohren-Klinik, Uniklinikum Erlangen
• Sascha Kelz; Audiologe, Hörakustikmeister, CI-Akustiker; Dreiklang Hörsysteme, Wuppertal
• Marcus Nartschik; Hörakustikmeister; Hörwerk Quedlinburg
• Univ.-Prof. Dr. med. Andreas Radeloff; Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde; Direktor der Universitätsklinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde im Evangelischen Krankenhaus Oldenburg, Universitätsmedizin Oldenburg
• Priv.-Doz. Dr. med. Nora Weiss; Fachärztin für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde; Leiterin des Hörzentrums an der Universitäts-Hals-Nasen-Ohrenklinik des Klinikums rechts der Isar, Technische Universität München
• Michael Willenberg; Hör- und CI-Akustiker; Gromke Hörzentrum; Leipzig
Weitere Informationen unter
• Deutsche Cochlea Implantat Gesellschaft: www.dcig.de
• Deutsche Gesellschaft für HNO-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie: www.hno.org
• Cochlear Deutschland: www.cochlear.de
Autor:Kraichgau News Ratgeber aus Bretten |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.