Dr. Tobias Merk vom RKH Klinikum Ludwigsburg nimmt im Interview Stellung zu kritischen Fragen rund um Corona
"Das Wissen ist noch sehr im Fluss"

Dr. Tobias Merk. rkh
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Region (swiz) Die Corona-Pandemie hat nicht nur zu strikten Regelungen im öffentlichen und privaten Leben geführt, sondern auch zu vielen, teils erbitterten Diskussionen rund um die Gefährlichkeit des Virus. Von Kritikern des aktuellen Krisenmanagements der Bundes- und Landesregierungen werden dabei verschiedene Argumente ins Feld geführt. Die Brettener Woche hat den Sektionsleiter Pneumologie (Lungenheilkunde) im RKH Klinikum Ludwigsburg, Dr. Tobias Merk, gebeten, zu einigen der häufigsten Fragen Stellung zu nehmen.

Herr Dr. Merk, oft hört man, Corona ist auch nicht gefährlicher als die typische Grippe. Stimmt das?
Es gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen beiden Erkrankungen. Beide werden durch Viren verursacht, die dazu neigen, die Lunge zu befallen. Das kann bei beiden Erkrankungen zu schlimmen Verläufen führen. Wir sehen in den Kliniken jeden Winter Lungenentzündungen durch Grippeviren, zum Teil auch mit tödlichem Verlauf. Ähnliche Verläufe sehen wir jetzt bei Covid-19. Beide Erkrankungen werden außerdem vorwiegend (nicht ausschließlich) durch Tröpfcheninfektion, also über die Ausatemluft übertragen. Nun aber zu den Unterschieden: Die Grippesterblichkeit schwankt von Saison zu Saison ein wenig, liegt aber normalerweise bei 0,1 bis 0,2 Prozent aller Erkrankten. Wir hatten auch schon schlechtere Jahre. Bei Covid-19 verbuchen wir aktuell weltweit gesehen eine Sterblichkeit von etwa 5,4 Prozent aller Erkrankten. In den USA liegt die Sterblichkeit aktuell ebenfalls bei etwas mehr als 5 Prozent. In Deutschland sind es weniger, nämlich aktuell nur circa 2,8 Prozent (Ungefähr 10.000 Tote auf 350.000 Fälle). Die Sterblichkeit liegt also um den Faktor 15 bis 30 höher als bei der Grippe. Auch die Virulenz (beschreibt wie ansteckend eine Erkrankung ist) des neuen Coronavirus ist um ein Vielfaches höher als bei Grippeviren. Leider zeigen sich bei Patienten nach überstandener Covid-19-Infektion auch gelegentlich Langzeit- oder Spätfolgen (Luftnot, Schmerzen im Brustkorb, Störungen des Nervensystems und einige andere), was wir von der Grippe so nicht kennen. Ein weiterer Unterschied macht die Möglichkeit zur Impfung aus – diese Option besteht bei Grippe schon lange, bei SARS-CoV2 aber noch nicht. Zudem profitieren wir davon, dass Grippeviren sich im Sommer praktisch gar nicht in der Bevölkerung vermehren. Beim Coronavirus ist das leider nicht so.

Wie kann es sein, dass der Großteil der Intensivbetten in den Krankenhäusern leer ist, wenn das Virus doch so gefährlich ist?

Das liegt zum einen daran, dass wir in den letzten acht Wochen deutlich mehr jüngere SARS-CoV2 positive Menschen hatten als noch im Frühjahr. Damals waren sehr viele Menschen infiziert, die vom Alter her in der zweiten Lebenshälfte stehen. Bei Jüngeren besteht eine deutlich größere Chance auf einen milden Verlauf, der zu Hause abgewartet werden kann. Außerdem hatten wir durch die bestehenden Schutzmaßnahmen, vielleicht auch witterungsbedingt, kein exponentielles Wachstum bei den Infektionszahlen, sondern eher ein lineares. Wir müssen annehmen: je mehr ältere Menschen sich infizieren, desto mehr Menschen werden wieder in den Kliniken behandelt werden müssen. Die richtige Schlussfolgerung wäre meiner Meinung nach: Die Krankenhäuser haben im Sommer nur wenige Patienten mit Covid-19 gesehen, weil der Lockdown seine Wirkung gezeigt hat, weil die meisten Menschen in unserem Land sich klug verhalten haben und sich an die vorbeugenden Maßnahmen gehalten haben und weil uns das Wetter des Sommers zugutekam. Aber nicht, weil das Virus plötzlich an Gefährlichkeit eingebüßt hat.

Die hohen Fallzahlen sind zum großen Teil auf die gestiegenen Testungen zurückzuführen und nicht auf einen generellen Anstieg des Infektionsgeschehens im Land. Ist diese These richtig?

In der Kalenderwoche Elf (9. bis 15. März) wurden 127.457 Tests durchgeführt, davon waren 5,9 Prozent positiv. In Kalenderwoche 30 (20. bis 26. Juli) waren es viel mehr Tests, nämlich 570.681, davon waren aber nur 0,8 Prozent positiv. Seit Anfang September werden jede Woche 1,1 bis 1,2 Millionen Tests durchgeführt. Die Positiv-Rate stieg dabei von 0,8 Prozent Anfang September auf aktuell 3,63 Prozent an. Ich denke, dass man aus diesen Zahlen einen Abfall des Infektionsgeschehens im Sommer und aktuell einen Wiederanstieg ableiten kann. Wir entdecken im Moment aber sicherlich auch SARS-CoV2-Positive ohne typische Symptome, die wir ohne Massentestung nicht entdecken würden. Insofern muss man das Argument gelten lassen. Eine entscheidende Bedeutung dürfte diesem Effekt aber eher nicht zukommen.

Die Zahl der positiv Corona Getesteten, die auch wirklich erkranken, ist nicht besonders hoch. Das heißt, nicht jeder Infizierte ist krank. Wie stehen Sie zu dieser Aussage?

Es ist richtig, dass nicht jeder positiv Getestete automatisch auch krank ist oder wird. Aber wir müssen davon ausgehen, dass fast jeder positiv Getestete ansteckend ist. Besseren Aufschluss als das reine Testergebnis kann hier der sogenannte Ct-Wert des Tests geben, also wieviele Testzyklen im Labor benötigt werden, bis der Test positiv wird. Werte von über 30 zeigen wahrscheinlich an, dass ein Patient wenig (vielleicht gar nicht) ansteckend ist, Werte zwischen zehn und 20 bedeuten in der Regel, dass jemand hoch ansteckend ist. Das Wissen zu diesem Thema ist aber noch sehr im Fluss. Die Wissenschaft hat derzeit auch noch nicht gut genug verstanden, weshalb manchen Menschen das Virus nicht viel ausmacht. Die Forschung zu diesem Thema ist hochinteressant, und ich hoffe, dass wir auf diese Frage in den nächsten Monaten Antworten bekommen.

Das dauerhafte Tragen von Masken zum Beispiel im Unterricht oder beim Einkaufen ist gesundheitsschädlich. Stimmt das aus Ihrer Sicht?

Das hängt von der Maske ab. Wir tragen in der Klinik bei Eingriffen oder bei der Behandlung von Covid-19-Patienten sogenannte FFP-Masken. Diese können bei Menschen mit Erkrankungen von Lunge/Bronchien oder Herz durchaus Schwierigkeiten wie Schwindel, Unwohlsein oder Kollaps verursachen. Ich könnte mir auch vorstellen, dass die eine oder andere selbst genähte Stoffmaske ähnliche Probleme verursacht. Ganz normale Alltagsmasken aus einer einfachen Stoffschicht oder kommerziell erhältliche, "chirurgische" Masken (chirurgische MNS-Masken) sind für alle Atemgase vollkommen durchlässig und erhöhen den Atemwiderstand nicht in einem relevanten Ausmaß. Es gibt keine plausiblen Hinweise darauf, dass diese Masken gesundheitsschädlich sind. Ausnahmen kann es geben, das muss im Einzelfall vom Arzt überprüft werden. Ärzte haben hier sicherlich einen Ermessensspielraum, dürfen aber keine Gefälligkeitsgutachten ausstellen. Kinder unter sechs Jahren von der Maskenpflicht zu befreien ist sinnvoll. Der Grund dafür liegt nicht in der Gefährlichkeit der Maske, sondern im fehlenden Einsichtsvermögen von kleinen Kindern.

Die Fragen stellte Brettener Woche-Redaktionsleiter Christian Schweizer.

Dr. Tobias Merk. rkh
Dr. Tobias Merk leitet die Sektion Pneumologie am RKH Klinikum Ludwigsburg. Foto: RKH Kliniken
Autor:

Christian Schweizer aus Bretten

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