Wie haben Familien die lange Zeit der Schulschließungen überstanden? Gespräch mit Brettener Expertinnen
"Schwerer Eingriff in die Kinderrechte"
Bretten (ger) Ab 17. März waren alle Schulen und Kindertageseinrichtungen wegen Corona geschlossen. In dieser Woche gehen nach zwei Wochen Pfingstferien alle Jahrgangsstufen wieder rollierend zur Schule, seit Ende Mai haben auch die Kitas eingeschränkt wieder offen. Wie haben Familien mit Kindern diese drei Monate erlebt? Darüber sprach Katrin Gerweck, Redakteurin der Brettener Woche/kraichgau.news, mit Silke Alb und Birgit Eisenhuth-Meister. Alb ist Koordinatorin der Schulsozialarbeit in Bretten und als Schulsozialarbeiterin an der Pestalozzischule, dem sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum in Bretten, tätig, Eisenhuth-Meister hat die Fachbereichsleitung der Psychologischen Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern des Diakonischen Werks in Bretten und Bruchsal inne.
Blicken wir auf den Anfang der Pandemie: Die Notfallbetreuung wurde zu Beginn viel weniger genutzt als erwartet. Was denken Sie, woran das lag?
Silke Alb: Anfangs, also in den drei Wochen vor den Osterferien, war der Bedarf tatsächlich verhalten. Das lag einerseits daran, dass die Bedingungen, wer die Betreuung überhaupt in Anspruch nehmen durfte, sehr eng gefasst waren. Die Unsicherheit war groß, viele hatten Angst vor Ansteckung und man wusste ja auch nicht, wie lange die Situation so bleiben würde. Inzwischen sind in Bretten und den Stadtteilen aber 150 Kinder in der Notbetreuung.
Birgit Eisenhuth-Meister: Als dann der Anspruch auf Betreuung ausgeweitet wurde, also zum Beispiel auch auf Kinder, die größeren Förderbedarf haben oder in prekären Verhältnissen leben, haben sich viele darin nicht wiedergefunden, obwohl das Thema Schule auch für die „gut funktionierende Mittelschichtsfamilie“ zum Stressfaktor wurde.
Stichwort Homeschooling. Wie haben Ihre Klienten dieses Provisorium erlebt?
S.A.: Viele Eltern waren mit dem vielen Material, das aus den Schulen kam, überfordert. Wenn den Kindern etwas Neues beigebracht werden musste, mussten sie von der Eltern- in die Lehrerrolle wechseln, daneben noch womöglich eigenes Homeoffice oder Angst vor dem Verlust des eigenen Arbeitsplatzes, das war eine große Stressbelastung. Schüler mit besonderem Förderbedarf und aus bildungsfernen Familien hatten es sehr schwer, ohne Unterstützung zuhause zu lernen.
B.E.-M.: Darin spiegelt sich auch unsere Leistungsgesellschaft wieder. Die Leistung steht im Zentrum, das hat viele Eltern umgetrieben.
S.A.: Für die Lehrer war die Situation natürlich auch schwierig. Für viele war die digitale Technik auch Neuland. Für ältere Schüler kann das selbstständige Arbeiten auch positiv gewesen sein. Und es gibt auch Familien, die näher zusammengerückt sind.
Frau Alb, Sie sind ja Schulsozialarbeiterin an einer Förderschule. Gab es besondere Angebote für Kinder aus Ihrer Schule?
S.A.: In Familien, wo ich vorher schon tätig war, haben ich und die Lehrer gezielt Kontakt gehalten. Es gab Familiengespräche, nicht nur telefonisch, sondern auch direkt mit entsprechendem Abstand und unter Beachtung aller Sicherheitsbestimmungen. Die Kinder, denen es nicht guttut, so viel zuhause zu sein, haben wir mit Unterstützung des Allgemeinen Sozialen Dienstes in den Notbetrieb geholt.
Und wie war es an den anderen Schulen?
S.A.: Der Austausch zwischen den Lehrkräften und der Schulsozialarbeit ging weiter. Es gab auch an anderen Schulen Elterngespräche und Bemühungen um die Kinder.
B.E.-M.: Die große Herausforderung in dieser Zeit war es, die Beziehung zwischen Lehrern und Schülern aufrechtzuerhalten. Manche Lehrer haben das sehr gut gemacht mit Telefonaten, Videokonferenzen und persönlichen Nachrichten. Andere haben sich rein auf die Wissensvermittlung konzentriert.
S.A.: Das ist auch der große Vorwurf von Kinderrechtsorganisationen: Die Schüler wurden auf das Schülersein reduziert und die monatelange Schließung der Schulen und Kitas war ein schwerer Eingriff in die Kinderrechte auf Entwicklung, Gesundheit, Bildung und Spiel.
B.E.-M.: Wir haben auch immer den Eltern geraten, den direkten Kontakt mit den Lehrern zu suchen, wenn es Probleme beim Homeschooling gab.
Sie haben selbst ja auch nur noch telefonisch beraten können. Was hat das in Ihrer Arbeit verändert? Und um welche Themen ging es?
S.A.: Beratung übers Telefon ist etwas ganz anderes, da muss man erstmal hineinfinden. Von Kindern und Jugendlichen sind wir so nur sehr verhalten angesprochen worden. Es fehlte einfach das niedrigschwellige „Einfach-mal-Vorbeikommen“ und der persönliche Kontakt.
B.E.-M.: Bei uns ging es in der Beratung anfangs viel um Homeschooling und die Machtkämpfe zuhause. Je länger der Lockdown anhielt, desto mehr ging es aber auch um Psychologisches.
Kindergartenkinder, die von ihren Eltern als „überreif“ erlebt wurden, konnten nicht eingewöhnt werden. Es gab Grundschüler, die in längst überwunden geglaubte Verhaltensmuster zurückgefallen sind, Pubertierende, die wie erstarrt waren, auch für junge Erwachsene im Studium oder im Abschlussjahr war und ist die Situation sehr schwierig. Und ein großes Thema war das Umgangsrecht bei getrennt lebenden Eltern und wie das in der Coronazeit geregelt ist.
Schon zu Beginn der Corona-Krise wurde ein Anstieg von häuslicher Gewalt vorausgesagt. Hat sich diese Befürchtung bestätigt?
B.E.-M.: In Bretten und Bruchsal können wir bisher keinen Anstieg ausmachen.
S.A.: Bei der Polizei im Landkreis sind auch nicht mehr Fälle häuslicher Gewalt gemeldet worden. Ich denke aber, dass das jetzt erst herauskommen wird, wenn die Kinder wieder in den Kindergärten und Schulen sind und von der Zeit erzählen.
Welche Auswirkungen, denken Sie, hat die lange Zeit ohne Schule und Kindergarten auf die Familien?
B.E.-M.: Viele Probleme oder Konflikte wie Geschwisterrivalität, die es vorher schon in Familien gab, haben sich wie unter einem Brennglas verschärft.
S.A.: Da sehe ich eine Bugwelle an unterschiedlichsten Auswirkungen auf uns zukommen. Im Landkreis haben wir allein 36 Prozent Alleinerziehende, die sind oft schwer getroffen von der Situation und werden physisch und psychisch erschöpft sein.
B.E.-M.: Man hat ja immer so getan, als ob Homeoffice flächendeckend möglich wäre, aber das entspricht nicht der gesellschaftlichen Realität. Für einige Familien geht es schlicht um deren Existenzsicherung.
S.A.: Es steht auch zu befürchten, dass wir Frauen, was die Gleichberechtigung angeht, eine Rolle rückwärts machen.
B.E.-M.: Da alle Care-Arbeit – so der neue, völlig einleuchtende Begriff für alles rund um Haushalt, Kinder und Pflege im privaten Bereich – immer noch vor allem von Frauen getan wird, geht die Soziologin Jutta Allmendinger zum Beispiel davon aus, dass uns die aktuelle Situation um zwei bis drei Jahrzehnte zurückwerfen könnte.
Schulen und Kindertagesstätten scheinen die letzten zu sein, die zu Normalbetrieb zurückkehren. Warum hört man so wenig Protest von Eltern dagegen?
S.A.: Den Eltern fehlt schlicht die Energie, jetzt auch noch auf die Straße zu gehen, zumal sich bei den Protesten gegen die Corona-Verordnungen ja auch eine wilde Mischung von Demokratiegegnern zusammengefunden haben. Es gab einige Demonstrationen von Eltern in Großstädten und zum Beispiel in Ludwigsburg.
B.E.-M.: Von der Situation sind ja alle überrollt worden. Die Frage sollte daher jetzt sein: Was kann man daraus lernen? Wie geht man damit um, wenn etwas Vergleichbares nochmals passiert? Der Landkreis war vor der Krise dabei die psycho-soziale Notfallversorgung für einen Großschadensfall einzurichten. Eine Pandemie hatte man dabei aber nicht auf dem Schirm.
Wie, denken Sie, wird es jetzt weitergehen?
B.E.-M.: Wir fänden es gut, dass der Hauptaugenmerk in den Schulen erstmal darauf liegt, wie es den Kindern emotional in der Krise ergangen ist und jetzt geht. Zu beurteilen, wie der Lernzuwachs war, wird gewiss auch eine große Aufgabe. Vielleicht brauchen an diesem Punkt auch einige Kinder gezielte „Nachförderung“. Vielleicht verändert sich in den Schulen durch die plötzliche Krise auch etwas.
S.A.: Der Digitalpakt an den Schulen ist als Grundstein bereits gelegt. Nun gilt es, die Erfahrungen aus der Corona-Zeit zu berücksichtigen und neben dem digitalen Lernen auch die digitale Beratung vor Ort auszubauen. Auch private Sponsoren sind schon aktiv. Wir als Schulsozialarbeiter müssen für unsere Beratungsangebote neue, digitale Wege finden, um Kinder und Jugendliche, aber auch die Eltern besser zu erreichen. Für die Zukunft stehen alle Schulsozialarbeiter der Stadt Bretten in den Schulen bereit, um zu unterstützen und zu beraten. Ich hoffe sehr, dass es nicht wieder einen Lockdown geben wird.
B.E.-M.: Wir finden es gut, dass der Landkreis die Beratungssysteme in dieser Zeit nie in Frage gestellt hat, sondern uns als systemrelevant erachtet hat. Seit zwei Wochen können auch wieder Gespräche in der Beratungsstelle stattfinden. Es sind auch schon Elterngesprächsgruppen geplant, in denen es darum geht, wie Familien durch die Krise gekommen sind, wie sie wieder in den Alltag finden und etwa den gestiegenen Medienkonsum der Kinder wieder zurückschrauben.
Autor:Katrin Gerweck aus Bretten |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.