Expert*Innen zu: Impfschutz bei Immunschwäche
„Das Erkrankungsrisiko für Menschen mit Immunschwäche ist deutlich erhöht“
Impfungen sollen im Falle einer Ansteckung mit einer Infektionskrankheit dem Körper helfen, seine Immunabwehr gezielt gegen den Krankheitserreger zu richten. Doch was bedeutet das für Menschen, deren Immunsystem aufgrund einer Erkrankung oder der Einnahme bestimmter Medikamente geschwächt ist? Warum dieser Personenkreis besonders auf einen vollständigen Impfschutz achten sollte, wie ein Impfschutz trotz der Immunschwäche aufgebaut werden kann und welche Impfungen ausdrücklich für Betroffene empfohlen werden, dazu informierten Expertinnen und Experten in der Sprechzeit. Hier die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick:
Zähle ich zur Gruppe der Menschen mit eingeschränkter Immunkompetenz?
Dr. med. Bettina Schraut: Hier muss man genau unterscheiden: Bei manchen ist das Immunsystem zum Beispiel durch einen Vitaminmangel geschwächt, aber ansonsten gesund. In diesem Fall bestehen über die Standardimpfungen hinaus keine besonderen Impfempfehlungen. Eine eingeschränkte Immunkompetenz hingegen kann einerseits durch einen angeborenen Immundefekt entstehen, zum Beispiel eine Asplenie. Andererseits wird sie durch bestimmte Erkrankungen verursacht beziehungsweise durch Medikamente, die die Immunabwehr teils gezielt senken. Zur Risikogruppe zählen daher Menschen mit einer HIV-Infektion, einer Autoimmunkrankheit wie der rheumatoiden Arthritis, dem Systemischen Lupus erythematodes oder der Multiplen Sklerose sowie anderen chronisch-entzündlichen Erkrankungen wie Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa. Auch bestimmte Arten von Krebs beziehungsweise deren Behandlung senken die Immunkompetenz der Betroffenen. In diesen Fällen ist ein besonderer Impfschutz empfohlen.
Welche Medikamente schwächen die Immunkompetenz?
Dr. med. Franziska Wiesent: Allen voran die Glucocorticosteroide – landläufig und nicht ganz korrekt „Kortison“ genannt. Sie schwächen in Abhängigkeit von Einnahmeform, Dosis und Dauer der Therapie das Immunsystem. In der Rheumatologie sind es die DMARD-Therapien. DMARD steht für disease modifying antirheumatic drug. Alle diese Medikamente wirken beabsichtigt immunmodulierend und greifen so mehr oder weniger stark in das Immunsystem ein, auch die Biologika genannten Antikörpertherapien. Mit ähnlichen Medikamenten werden zudem viele andere Erkrankungen behandelt, darunter Krebserkrankungen oder neurologische Krankheiten wie etwa Multiple Sklerose. Insgesamt nehmen sowohl die Zahl immunmodulierend wirksamer Medikamente als auch die damit behandelten Erkrankungen stetig zu.
Wie kann man erfolgreich impfen, wenn ausgerechnet das Immunsystem geschwächt ist?
Dr. med. Ulrich Enzel: Dieser scheinbare Widerspruch ist wohl das größte Missverständnis beim Thema Impfen. Eine Schwächung des Immunsystems bedeutet eben gerade nicht, dass es überhaupt nicht in der Lage wäre, mit Hilfe von Impfstoffen einen Schutz gegen Krankheiten aufzubauen. Bei den meisten der vielen unterschiedlichen Arten einer Immunschwäche ist das Immunsystem immer noch ausreichend kompetent, so dass eine erfolgreiche Immunantwort gegen Krankheitserreger erreicht werden kann. Dies gilt für fast alle beimpfbaren Krankheiten, durch die Immungeschwächte ohnehin weit stärker bedroht sind.
Müssen Menschen mit geschwächtem Immunsystem häufiger geimpft werden?
Dr. med. Til Ramón Kiderlen: Teilweise ja. Grundsätzlich gilt natürlich, dass zunächst einmal die Standardimpfungen erfolgen sollten, doch es gibt ein paar Impfungen, die bei Patienten mit geschwächtem Immunsystem anders beziehungsweise häufiger erfolgen sollten. Welche dies im Einzelfall sind, hängt von der jeweiligen Ursache und Ausprägung der Immunschwäche ab.
Was ist das Besondere an bakteriellen Infektionen?
Dr. med. Ulrich Enzel: Die Bakterien, die uns als Krankheitserreger bedrohen, haben Strategien entwickelt, sich vor unserer natürlichen Immunabwehr zu schützen. Besonders effizient sind hierbei Kokken wie die Pneumo- und Meningokokken: Sie bedienen sich einer Kapsel, die wie eine Tarnkappe wirkt. Doch moderne Impfstoffe können unser Immunsystem so stark ertüchtigen, dass es diese Kapseln überwinden kann – und dies bei fast allen Immunschwäche-Erkrankungen.
Wie gefährlich ist eine Meningokokken-Infektion und wie hoch ist das Risiko einer Ansteckung?
Dr. med. Ulrich Enzel: Bei Meningokokken können sich innerhalb weniger Stunden aus einem Krankheitsbild, das zunächst einem fieberhaften Atemwegsinfekt gleicht, schwerste Verläufe entwickeln, die oft zu bleibenden Schäden, nicht selten sogar zum Tod führen können. Je nach Jahreszeit sind auch in Deutschland nicht wenige Menschen Träger von Meningokokken. Sie zeigen zwar selbst keine Symptome, können andere aber unbemerkt anstecken. Die Zahl der gemeldeten Krankheitsfälle pro Jahr liegt im niedrigen bis mittleren zweistelligen Bereich, etwa 10 Prozent davon verlaufen tödlich. Das Erkrankungsrisiko für Menschen mit einer Immundefizienz ist – je nach deren Ursache – um bis zu zehntausendfach erhöht. Der Grund: Die mangelnde Fähigkeit ihres Immunsystems, die Kokken-Kapseln zu knacken.
Wie sieht es mit dem Impfschutz aus, wenn eine längere Krebstherapie geplant ist?
Dr. med. Til Ramón Kiderlen: Ganz allgemein gesprochen sollten Krebspatienten neben den Standardimpfungen eine ganze Reihe zusätzlicher Impfungen erhalten. Doch Krebs ist nicht gleich Krebs und die Therapien sind sehr unterschiedlich, weshalb sich die Empfehlungen von Fall zu Fall unterscheiden. Trotzdem gilt, dass alle Krebspatienten potenziell immungeschwächt sind und deshalb zusätzliche Impfungen zum Schutz vor vermeidbaren Erkrankungen erhalten sollten. Besonders wichtig ist dies bei absehbar langen Krebstherapien, weil hier mit der Zeit oft eine fortschreitende Immunschwäche auftritt.
Was müssen Menschen mit einer rheumatischen Erkrankung beim Impfschutz beachten?
Dr. med. Franziska Wiesent: Diese Gruppe erlebt häufig eine Beeinträchtigung des Immunsystems, zum einen durch die Erkrankung selbst – vor allem wenn Sie sehr aktiv ist. Zum anderen greifen viele antirheumatische Therapien in das Immunsystem ein. Zwar nimmt die Infektionsgefahr langfristig meistens wieder ab, wenn die Erkrankung gut kontrolliert ist, aber auch dann sind vollständige Impfungen der beste Schutz gegen Infektionen. Vollständig bedeutet: Alle Standardimpfungen gemäß Impfkalender plus die Indikationsimpfungen für Menschen mit Immundefizienz. Impfungen mit einem Lebendimpfstoff dürfen jedoch unter einer laufenden immunmodulierenden Therapie nicht oder nur nach sehr sorgfältiger Absprache zwischen Arzt und Patient durchgeführt werden. Sie sollen am besten vor Aufnahme einer antirheumatischen Therapie erfolgen.
Welche Impfungen werden für Menschen mit eingeschränkter Immunkompetenz noch empfohlen?
Dr. med. Bettina Schraut: Neben den Standard- und Auffrischimpfungen führt die Ständige Impfkommission (STIKO) bei Immunschwäche aktuell Indikationsimpfungen gegen Hepatitis B, Influenza, Meningokokken und Pneumokokken auf. Außerdem wird Menschen mit fehlender oder funktionsloser Milz (Asplenie) die Impfung gegen Haemophilus influenzae Typ b empfohlen. Gegen Varizellen sollen sich gemäß STIKO Personen vor einer geplanten immunsuppressiven Therapie oder einer Organtransplantation impfen lassen, wenn bei ihnen keine Antikörper nachgewiesen werden können.
Sind Impfungen für Immungeschwächte mit besonderen Risiken oder Nebenwirkungen verbunden?
Dr. med. Til Ramón Kiderlen: Alle Impfungen, die für immungeschwächte Patienten empfohlen sind, sind sogenannte Totimpfstoffe. Besondere Nebenwirkungen sind auch bei dieser Patientengruppe nicht zu erwarten. Anders verhält es sich mit den Lebendimpfstoffen: Diese sollten bei Immungeschwächten möglichst nicht eingesetzt werden. Sollte es dennoch erforderlich sein, bedarf es zuvor einer gründlichen Diagnose des Immunstatus und einer sorgfältigen Abwägung von potenziellen Risiken.
An wen kann ich mich wenden, um meinen Impfschutz überprüfen zu lassen?
Dr. med. Franziska Wiesent: Die meisten Ärztinnen und Ärzte verfügen über das dafür notwendige Wissen. Sprechen Sie Ihren Hausarzt/Ihre Hausärztin oder Ihren behandelnden Facharzt/Ihre Fachärztin konkret auf die bei Ihnen sinnvollen Impfungen an. Sie kennen Ihre Erkrankung, Ihre Therapie und die Begleitumstände wie weitere Erkrankungen oder ein berufliches Expositionsrisiko und können daher am besten Auskunft geben.
Wann ist der richtige Zeitpunkt für eine Impfung gegen Meningokokken, wie lange hält der Impfschutz an und wer übernimmt die Kosten für die Impfung?
Dr. med. Ulrich Enzel: Als Indikationsimpfung für Menschen mit angeborener oder erworbener Immundefizienz empfiehlt die STIKO, unabhängig vom Lebensalter, eine einmalige Impfung mit einem Konjugat-Kombi-Impfstoff gegen die Serotypen A, C, W und Y, ergänzt durch eine Impfung gegen den Serotyp B. Die Kosten werden in der Regel von der Krankenkasse übernommen. Für Auffrischimpfungen gibt es aktuell keine Empfehlung, da der Impfschutz nach heutigem Kenntnisstand sehr lange anhält.
Was müssen Menschen mit geschwächtem Immunsystem auf Reisen beachten?
Dr. med. Bettina Schraut: Für diese Gruppe ist es besonders wichtig, sich vor einer geplanten Reise rechtzeitig reisemedizinisch beraten zu lassen. So können in Ruhe alle Vorkehrungen getroffen und Impfungen so zeitig verabreicht werden, dass der Impfschutz bei Reisebeginn zuverlässig aufgebaut ist.
Wer sollte sich außerdem gegen Meningokokken impfen lassen?
Dr. med. Bettina Schraut: Die Impfung gegen Meningokokken ist je nach Risikoprofil für eine Ansteckung auch für Menschen mit gesundem Immunsystem als Reiseimpfung empfohlen. In einigen Ländern, zum Beispiel Saudi-Arabien und afrikanischen Ländern des Meningitis-Gürtels, ist ein Impfnachweis verpflichtend. Grundsätzlich sollte sich jeder, der einen längeren beruflich bedingten oder privaten Aufenthalt in einem Risikogebiet plant, beraten und gegebenenfalls impfen lassen.
Die Expertinnen und Experten in der Sprechzeit waren:
• Dr. med. Franziska Wiesent; Fachärztin für Innere Medizin, Schwerpunkt Rheumatologie, Zusatzbezeichnung Akupunktur, Endokrinologikum München
• Dr. med. Bettina Schraut; Fachärztin für Innere Medizin, Notfallmedizin, Diabetologin DDG, Aschheim
• Dr. med. Ulrich Enzel; Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Zusatzbezeichnung Allergologie, Autor von Fachpublikationen zum Thema Prävention u.a. im Bereich Impfwesen, Heilbronn
• Dr. med. Til Ramón Kiderlen; Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie, Onkologie, Infektiologie, Notfallmedizin, Palliativmedizin, Leitender Oberarzt am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum, Berlin Schöneberg
Weitere Informationen unter
• www.rki.de (Robert Koch-Institut)
• www.wirfuersimpfen.de (Pfizer)
• www.impfen-info.de (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung)
Autor:Kraichgau News Ratgeber aus Bretten |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.