Polen – Entdeckungsreise auf den Spuren der europäischen Geschichte, Teil 6: Olsztyn / Allenstein
„Pruzzenweiber“ und ein weltbewegender Astronom
Samstag, 21. Juli: Rundgang durch die Altstadt
Am späten Nachmittag setzen wir unsere Fahrt von Malbork fort nach Olsztyn, dem ehemaligen Allenstein, heute Hauptstadt des polnischen Verwaltungsbezirks (Woiwodschaft) Ermland-Masuren. Der deutsche Name Allenstein leitete sich vom die Stadt durchquerenden Flüsschen Alle, polnisch Łyna, ab.
Überraschung am Bücherstand
Wir kamen wiederum früh genug im Hotel an, um noch einen abendlichen Spaziergang ins Stadtzentrum anhängen zu können. Er führte vorbei am imposanten neuen Rathaus, 1915 im Stil der Neo-Renaissance fertiggestellt, durch das denkmalgeschützte Hohe Tor direkt in die reizvolle Altstadt. Vor allem der sich um das spätgotische Alte Rathaus mit Stadtbücherei herum erstreckende Marktplatz mit seinen mittelalterlichen Stufengiebel-, geschwungenen Barock- und verspielten Jugendstilfassaden, seinen Café-Terrassen und seinem lebhaften Treiben verstrahlte an jenem warmen, aber nicht zu heißen Sommerabend ein fast mediterranes Flair. Wir umrundeten das Alte Rathaus, vor dem eine Installation mit Nachbildungen archaischer Steinfiguren, sogenannter Pruzzenweiber, zum Gedenken an die Gründung der Republik Polen zu sehen war, und machten auch Abstecher in Seitengassen. Als ich an einem Bücherstand einen Stadtplan suchte, sprach mich unvermittelt der Buchhändler auf Deutsch an. Pawel erzählte, dass er zuletzt auf Besuch in Deutschland in der Partnerstadt Offenburg gewesen sei und legte uns die eine oder andere Sehenswürdigkeit in Olsztyn ans Herz. Wir versprachen, am nächsten Tag wiederzukommen. Beim Rückweg durch den Stadtpark entdeckten wir einen nach Gelsenkirchen, der zweiten deutschen Partnerstadt von Olsztyn, benannten Platz.
Sonntag, 22. Juli: Exkurs zur Familiengeschichte
Bisweilen ist Reisen auch Spurensuche. Deshalb mögen die geschätzte Leserin und der geschätzte Leser verzeihen, wenn dieses Kapitel ausnahmsweise auch der Familiengeschichte des Autors Tribut zollt. Mein Interesse in Olsztyn galt einerseits dem Geburtshaus meiner Mutter und andererseits dem letzten Wohnhaus ihrer Familie vor der Flucht im Jahr 1945. Ihr Großvater mütterlicherseits war der Stukkateur und Malermeister Bernhard Brauchowitz, der neben seinem Handwerk einen kleinen Laden unterhielt. Laut Historischem Adressbuch der Stadt Allenstein wohnte der Malermeister in der Jägerstraße 10.
Ein historisches Foto und seine Grenzen
Über eine polnische Internet-Seite mit Gegenüberstellung der damaligen und heutigen Straßennamen war es mir gelungen, die gesuchte Straße herauszufinden: Uliza Nowowiejskiego (Nowowiejski-Straße), benannt nach Feliks Nowowiejski, einem polnischen Komponisten. Fehlte nur noch ein Stadtplan, den wir uns in der Touristeninformation neben dem Hohen Tor besorgten. Überraschenderweise lag die gesuchte Straße gleich nebenan. Ich hielt das mitgebrachte Foto zum Vergleich vor die Häuserzeile. Ergebnis: Ein Haus wies tatsächlich hinsichtlich der Fassadengestaltung und der abschüssigen Straßenlage Ähnlichkeiten mit dem gesuchten Gebäude auf. Pech nur, dass weder die Hausnummer, noch die Zahl der Fensteröffnungen stimmten.
Kindheitsspuren der Mutter
Von der jüngsten Schwester meiner Mutter hatte ich die letzte Wohnadresse der Familie im damaligen Allenstein erfahren. Auch hier verriet die polnische Internet-Seite den heutigen Namen der einstigen Hermann-Göring-Straße: Uliza Limanowskiego (Limanowski-Straße), benannt nach Bolesław Limanowski, einem polnischen sozialistischen Politiker. Unser Spaziergang führte uns vorbei an einem Wegweiser zum St-Jakobsweg, durch ein erst jüngst fertiggestelltes modernes Wohnquartier nahe dem Stadttheater und eine mit japanischen Manga-Graffitis verzierte Unterführung, durch die damals gerade im Umbau befindliche Uliza Partyzantów (Partisanen-Straße) und über die Bahnlinie nach Norden. Nach kurzem Suchen entdeckten wir das Postamt neben dem Eingang zur Hausnummer 46. Ein paar Erinnerungsfotos noch. Mission erfüllt.
Bier mit Trinkhalm
Auf dem Rückweg entdeckten wir beispielsweise das Einkaufszentrum Manhattan, einen gelben Betonklotz mitten im Wohngebiet, kuriose Aufbauten auf Wohnblocks, mutmaßlich frühere Überwachungstürme und einen von einer Dampflok gezogenen Personenzug. Der Treibstoff Kohle ist in Polen immer noch billig. In der Altstadt schien Pawel an seinem Bücherstand stark mit Kundschaft beschäftigt, weshalb wir unser Wiedersehen verschoben. Stattdessen legten wir eine Atempause auf einer der von Sonnenschirmen überschatteten Caféterrassen ein, wo Bier mit Trinkhalm serviert wurde.
Astronom auf dem Mäuerchen
Vom Marktplatz sind es nur wenige Schritte zur ehemaligen Burg des ermländischen Domkapitels, dem heutigen Schloss. Im Mittelalter war Allenstein Sitz eines der drei Kammerämter des Fürstbistums Ermland und damit eins der wichtigsten Machtzentren des ermländischen Bischofs innerhalb des Deutschordensstaates. Während sich auf der einen Seite in dem im Burggraben errichteten Amphitheater Musiker für ihren abendlichen Auftritt im Rahmen des Olsztyner Kunstsommers warmspielten, zog auf der anderen Seite eine auf einem Mäuerchen sitzende Bronzefigur unsere Aufmerksamkeit auf sich. Die lebensgroße Figur auf dem mit einem Damm überbrückten einstigen Burggraben stellt Nikolaus Kopernikus dar - mit auf die Burg gerichtetem Blick. Der 1473 geborene und 1543 verstorbene Domherr, Astronom und Arzt hatte als Kanzler des ermländischen Domkapitels mit Sitz in Frauenburg (Frombork) mehrfach im damaligen Allenstein zu tun. Bei seinen Aufenthalten residierte er in der Burg.
Kopernikus schreibt Geschichte
Kopernikus war ein typischer Renaissance-Mensch. Wie seine Zeitgenossen, darunter die deutschen Reformatoren Martin Luther und Philipp Melanchthon, Humanisten wie Johannes Reuchlin in Pforzheim, Erasmus von Rotterdam in den Niederlanden, Thomas Morus in England und Juan Luis Vives in Spanien, aber auch Künstler wie Albrecht Dürer in Deutschland sowie Leonardo da Vinci und Michelangelo Buonarroti in Italien, war er hoch gebildet und äußerst vielseitig interessiert. Neben seinen politischen und Verwaltungsaufgaben verfasste er wissenschaftliche Abhandlungen. Wissenschaftsgeschichte geschrieben hat er mit seinem astronomischen Hauptwerk über die Umlaufbahnen der Planeten um die Sonne, das der damals vorherrschenden Lehre von der Erde als Mittelpunkt des Universums widersprach. Die sogenannte kopernikanische Wende leitete vor 500 Jahren in Europa die Abkehr von überkommenen religiösen Glaubenssätzen ein, die über die Aufklärung den Weg für Vernunft und moderne Wissenschaft ebneten.
Archaische Steinfigur
Im Schlosshof fiel eine archaische Steinfigur auf, die als Vorlage für die am Alten Rathaus aufgestellten „Pruzzenweiber“ diente. Die dem vorchristlichen, baltischen Volksstamm der Prußen zugeschriebene Figur wurde anscheinend erst nach dem Zweiten Weltkrieg nach Olsztyn gebracht. In Wirklichkeit soll sie keine Frau, sondern einen Krieger darstellen, der in einer Hand ein Horn, in der anderen eine kurze Waffe trägt. Von den Prußen leitete der spätere Staat Preußen seinen Namen ab. Heute hat die Figur einen festen Platz im Geschichtsbild der polnischen Nation. Im Schloss ist heute das Ermland- und Masuren-Museum untergebracht.
Stippvisite in der Jakobs-Kathedrale
Das Stadtwappen von Olsztyn zeigt einen Pilger mit Wanderstock und Jakobsmuschel, der den Apostel Jakobus den Älteren darstellt. Ihm war die erste Pfarrkirche von Olsztyn geweiht, die heutige Dom-Basilika. Um dorthin zu gelangen, überquerten wir wiederum den Marktplatz in entgegengesetzter Richtung. Die im 14. Jahrhundert errichtete St. Jakobskathedrale überragt gut sichtbar die Häuserreihen am Marktplatz und ist ein weiteres prominentes Beispiel der von Belgien bis ins Baltikum verbreiteten nordeuropäischen Backsteingotik. An der Fassade erinnert ein Relief an den Besuch des aus Polen stammenden Papstes Johannes Paul II. im Jahr 1991, der die zum Erzbistum Ermland gehörende Kathedrale 2004 zur Basilica Minor hochstufte. Damit steht sie auf derselben Stufe wie etwa die Klosterkirche Ettal oder das Konstanzer Münster.
Unser Rückweg ins Hotel führte vorbei am „Denkmal zur Befreiung der ermländischen und masurischen Erde“, das an die Befreiung Olsztyns von den Nazis durch Sowjettruppen im Jahr 1945 erinnert.
Chris Heinemann
Alle Fotos: ch
Den siebten Teil des Reiseberichts Polen unter dem Titel „Masuren: Ausflug ins Seenparadies“ lesen Sie nächste Woche an dieser Stelle.
Die vorangegangenen Teile und weitere Berichte von anderen Reisenden aus der Region lesen Sie auf unserer Themenseite: Reiseberichte
Autor:Chris Heinemann aus Region |
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