„Man muss die politische Mitte stärken“
Direktor der Europäischen Melanchthon-Akademie Günter Frank im Interview

Günter Frank in der Gedächtnishalle des Melanchthonhauses. | Foto: kuna
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Bretten (kuna) Der Direktor der Europäischen Melanchthon-Akademie in Bretten, Günter Frank, geht im Sommer dieses Jahres in den Ruhestand. Der 68-Jährige ist seit 1998 Kustos des Melanchthonhauses und seit 2004 Direktor der Melanchthon-Akademie. Im Gespräch mit der Brettener Woche-Redakteurin Kathrin Kuna blickt er zurück auf sein Wirken, beleuchtet aber auch aktuelle politische Fragen, sei es das Erstarken von extremistischen Kräften oder der Krieg in der Ukraine.

Herr Frank, welche drei Aspekte finden Sie persönlich an Melanchthon am wichtigsten?
Melanchthon war eine herausragende humanistische Gestalt. Ihm ging es um ein Leben nach Augenmaß, ohne Extreme. Er war außerdem ein Ökumeniker, der zwischen den Kirchen vermittelt hat und an die Einheit statt die Vereinzelung geglaubt hat. Und drittens war er eine unglaublich anregende und inspirierende Persönlichkeit. Als ich seinen Kommentar zur aristotelischen Ethik editiert habe, habe ich sehr viel über die praktische Philosophie für mich selbst mitgenommen.

Wenn Sie in diesem Jahr in den Ruhestand gehen, waren Sie 20 Jahre lang Direktor der Melanchthon-Akademie. Was werden Sie am meisten vermissen?

Meinen letzten Arbeitstag habe ich am 31. Juli. Wenn ich dann in den Ruhestand gehe, werde ich vor allem die Intensität der unterschiedlichen Projekte vermissen, sei es die Forschung, das Ausstellungswesen oder die Pflege des Melanchthon-Netzwerkes.

Steht schon ein Nachfolger, eine Nachfolgerin fest?
Die Bewerbungsphase für die Nachfolge ist bereits abgeschlossen und im Moment laufen die Gespräche. Einen konkreten Namen kann ich noch nicht nennen. Die Entscheidung über den neuen Direktor fällt der Gemeinderat. Das Haus wird ja maßgeblich von der Stadt Bretten finanziert, aber auch durch verschiedene Drittmittel gefördert.

Wie kann man sich eigentlich einen typischen Arbeitsalltag von Ihnen vorstellen?
Mein Arbeitstag beginnt morgens im Büro. Ich schreibe, lese, konzipiere, führe Gespräche oder begrüße Besucher des Melanchthonhauses. Oft gibt es auch Abendveranstaltungen mit Vorträgen, Ausstellungseröffnungen oder Konzerten. Um das Melanchthon-Netzwerk aufzubauen und zu pflegen, bin ich aber auch viel unterwegs, nicht nur in Baden-Württemberg, Deutschland und Europa. Ich war dienstlich auf der ganzen Welt unterwegs, von Australien, Skandinavien bis Afrika und habe dort die Vernetzung mit allen Melanchthon-Fans gesucht, um das „melanchthonian universe“ zu pflegen.

Wo genau findet man dieses „melanchthonian universe“?
Es gibt zwei Melanchthonhäuser: eines in Bretten, dem Geburtsort von Melanchthon, und eines in Wittenberg, seinem Wohnort. Außerdem gibt es das Melanchthon Institute in Houston/Texas. Die „Melanchthon-Fans“ finden sich aber vor allem an den evangelischen Fakultäten der Universitäten.

Was ist Ihnen für die Zukunft des Hauses wichtig? Haben Sie einen Wunsch an Ihren Nachfolger, Ihre Nachfolgerin?
2030 jährt sich die Verlesung des „Augsburger Bekenntnisses“, der confessio augustana, zum 500. Mal. Melanchthon ging es darum, die Einheit des westlichen Christentums herzustellen, was aber gescheitert ist. Dieses Thema, rund um die Verständigung der Konfessionen, sollte intensiviert werden.

Das Melanchthonhaus ist aber ja auch ein Museum und die Dauerausstellung stammt nun schon aus dem Jahr 2003. Eigentlich sagt man, dass eine Dauerausstellung nicht länger als 20 Jahre bestehen sollte. Sie müsste also umgestaltet werden, mit neuen attraktiven Darstellungen, auch unter Einsatz von Künstlicher Intelligenz und Augmented Reality, damit ein neues Publikum angezogen wird.

Melanchthon hat sich um die Verständigung der christlichen Konfessionen bemüht. Das Thema ist auch heute aktuell. Wie steht es um die Verständigung aus Ihrer Sicht derzeit?
Von den 50er bis 80er Jahren war der Austausch sehr intensiv, er ist dann aber abrupt abgebrochen. Seit den 90er Jahren befindet man sich in einem Schwebezustand zwischen den Konfessionen. Zwischen den Lutheranern, Protestanten und den Katholiken, Orthodoxen gibt es eher weniger ein fruchtbares Miteinander.

Wie könnte man das ändern?
Ähnlich wie bei der Augsburger Konfession: Die Wittenberger Reformatoren wollten damals keine neue Kirche, sondern die alte Kirche reformieren. Das heißt, die Christenheit nicht zu spalten. Die confessio augustana war ein Dokument der ökumenischen Einheit. Auch heute stehen die katholische und evangelische Kirche unter enormen Reformdruck, sei es wegen Skandalen wie den Missbrauchsfällen oder die Stellung der Frau bei den Katholiken.

Braucht es also eine neue Reformation?
Die Kirche braucht eine Reform, von einer Reformation würde ich nicht sprechen, da der Begriff negativ konnotiert ist und auf eine Abspaltung abzielt. Es sollte vielmehr darum gehen, die Kirche aus sich heraus zu erneuern.

Braucht es vielleicht einen neuen Melanchthon?
Ein neuer Melanchthon! Das wäre nicht schlecht (lacht). Es wäre schon gut, wenn es einen Wegweiser gäbe, jemand, der die Leute ermutigt und motiviert. Melanchthon war es wichtig, darauf zu schauen: Wo wird mit unterschiedlichen Begriffen eigentlich die gleiche Sache gemeint?

Ihm ging es darum, ein friedvolles Gemeinwesen zu etablieren und von Extremen Abstand zu halten. Jeder sollte sich nach seiner eigenen Vorstellung entfalten und Glück erfahren. Auch der Begriff des Glücks ist ein breites Spektrum. Der eine versteht darunter, viel Geld zu verdienen. Ein anderer dagegen findet sein Glück darin, als Elternteil ein behindertes Kind zu pflegen und sich um dieses verwundbare Geschöpf zu kümmern – was andere dagegen gar nicht könnten. Es gibt eine ganze Vielfalt an möglichen Glückserfahrungen.

Ähnliches findet man auch bei Aristoteles' "mesotes", der Mitte, zwischen der Tollkühnheit und der Hasenfüßigkeit. Diese Mitte dauerhaft zu leben ist nach Aristoteles der Schlüssel zum Glück.

Die unterschiedliche Interpretation von Begriffen ist ein Problem, das man auch im politischen Diskurs vorfindet. Derzeit erleben wir eine Abspaltung und Abwanderung in Extreme. Wie kann man diese Menschen von den Rändern zurückgewinnen?
Man muss die politische Mitte stärken. Damit werden all diejenigen bezeichnet, die fleißig sind, einen Bildungshorizont haben und Nächstenliebe praktizieren. Man muss schon in den Schulen und Unis damit anfangen, die humanistischen Ideale von Melanchthon und anderen zu verbreiten.

Ich sehe aktuell viel Politikverdrossenheit, was auch zum Erstarken von Rändern führt. Das lässt sich beispielsweise an dem Dauerthema der Migration und deren gesellschaftlichen Konsequenzen ablesen. Das fängt bei der Wohnungsnot an und geht bis zur Bildung von Parallelgesellschaften – es ist ein universales Problem.

Sehen Sie in der aktuellen Politik die Fähigkeit, die Ränder zurückzugewinnen?
Ich sähe die Möglichkeit – das sage ich im Konjunktiv. Man darf sich den schweren Themen aber nicht verschließen. Die Regierung und die Politik müssen Hand in Hand gehen.

Können Sie das an dem Beispiel der Migration etwas näher erläutern?
Die Migranten müssten schon an den Grenzen auf Migrationsbedürftigkeit und -fähigkeit überprüft werden und die Rückführungen von solchen, die nicht darunterfallen, beschleunigt werden. Auch die Parallelgesellschaften mit Clan-Strukturen, wie man sie aus Berlin oder Düsseldorf kennt, sind ein schwieriges Thema, das man nicht tolerieren darf. Wenn so etwas wieder aufkommt, ist man ganz erschrocken, aber in Städten wie Berlin ist das ein Dauerthema. Man muss sich der Frage stellen: Wie weit ist es möglich, patriarchale Strukturen, wie sie in einigen islamistischen Strömungen vorzufinden sind, zu integrieren? Es gibt ja auch das Problem, dass türkische Mitbürger sich der AKP, der Partei von Erdogan, zuwenden.

Gerade solche Entwicklungen bringen Menschen in Deutschland dazu, Parteien wie die AfD zu wählen, die sich in der rechtsextremistischen und fundamentalistischen Ausrichtung nicht großartig von Parteien wie der AKP unterscheiden. Wie sollte man damit umgehen?
Es ist wichtig, Fragen, Ängste und Sorgen zuzulassen und ehrlich zu diskutieren. Auch einer Alice Weidel, die vor kurzem in Bretten war, sollte man auf jeden Fall zuhören. Das Problem mit der AfD ist aber, dass sie keine positiven Lösungsansätze hat und nur nörgeln kann. Deshalb ist es wichtig, sie aussprechen zu lassen und nachzuhaken: Wie soll es anders gehen? Gerade mit dem Begriff der Remigration haben sich die faschistoiden Züge gezeigt und die Demos gegen Rechts gab es als Gegenreaktion zu Recht.

Um bei der aktuellen Politik zu bleiben: Zuletzt haben Sie einen Vortrag über Moskau als drittes Rom gehalten. Worum ging es darin?

Der Vortrag handelte von dem russischen Imperialismus der Gegenwart. Dieser geht auf die kulturgeschichtliche Idee des 15. Jahrhunderts zurück. Als Konstantinopel, das Zentrum des byzantinischen Reiches, 1453 untergegangen ist, wurde die Idee „Rom“ nach Moskau transferiert. In Moskau als neuem Rom gab es eine enge Symbiose von Kirche und Staat. Die Idee hat sich gehalten bis in das 19. Jahrhundert und in die Sowjetunion hinein, die ein starkes imperialistisches Bestreben hatte. Auch die Geheimdienste, seit der Gründung der Tschekisten 1917, haben Russland bis in die Gegenwart hinein geprägt. Das ist eine Geheimbande, die mordet, tötet und vergiftet – das sieht man auch heute daran, wie Putin, der bei dem Geheimdienst KGB war, mit seinen Gegnern umgeht und seinen Krieg führt. Die Entwicklung Russlands, vom Zarentum bis zu Putin, hätte man im Westen schon sehen können müssen.

Welches Ziel verfolgt Putin mit dem Krieg gegen die Ukraine?
Die Ausweitung des russischen Imperialismus und die Wiederherstellung der Sowjetunion.

Daran schließt sich die Frage an: Wie kann es einen Frieden geben?
Ein Ende des Krieges sehe ich nicht. Putin wird nicht nachgeben. Wir müssen die Ukraine unterstützen, soweit es geht. Und man muss damit rechnen, dass es den Krieg nicht auf Jahre, sondern auf Jahrzehnte geben wird. Der Ursprung des Krieges liegt auch im Konflikt der orthodoxen Kirche.

Wieso das?

Die orthodoxe Kirche ist in autokephale Kirchen organisiert, das bedeutet, die Patriarchate sind selbstständig. Jede Kirche ist unabhängig und selbstständig. Vor zwei Jahren saßen sich Vertreter der Russischen Orthodoxen Kirche und der Ukrainischen Orthodoxen Kirche in Karlsruhe bei der ÖRK-Vollversammlung [Anm. d. Red.: Ökumenischer Rat der Kirchen] sprachlos gegenüber. Seit 2022 schwebt das Damoklesschwert des Angriffskrieges über den beiden Kirchen.

Bei dem Panel haben die Ukrainer ihre Sicht auf den Krieg dargelegt, die Russen haben geschwiegen. Noch bis heute herrscht von den Vertretern der Russisch-Orthodoxen Kirche entweder Schweigen oder die Bekundung von Neutralität: In Politik mischen wir uns nicht ein. So war es auch beim Pope von Rastatt, Oleg Kula, mit dem ich erst kürzlich gesprochen habe, als es um die ACK [Anm. d. Red.: Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen] ging, in der die Russen Mitglied werden wollen. Auch in Bretten soll im Übrigen eine ACK gegründet werden, in dem die evangelische und katholische Kirchengemeinde, neuapostolischen Baptisten und Freikirchen Mitglied sein werden.

Um noch einmal auf Ihren Ruhestand zurückzukommen: Haben Sie etwas geplant, werden Sie weiter forschen?
Die Arbeit wird mir nicht ausgehen, ich bin Mitglied in vielen Vereinigungen. Mit dem Ruhestand werde ich erst einmal meinem Nachfolger oder meiner Nachfolgerin Platz machen. Mit Sicherheit werde ich weiter forschen, lesen und lehren.

Wo werden Sie Ihren Ruhestand verbringen?

Entweder in Karlsruhe, wo ich jetzt wohne. Oder in meiner Heimat, in Erfurt. Das entscheidet sich nach meiner Eingebung.

Die Fragen stellte die Brettener Woche-Redakteurin Kathrin Kuna.

Autor:

Kathrin Kuna aus Bretten

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