Polen – Entdeckungsreise auf den Spuren der europäischen Geschichte, Teil 1: Kołobrzeg / Kolberg
Von der Festung zum Badeort

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In Polen wird es an diesem Sonntag, 12. Juli 2020, spannend: In der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl können sich die Wähler zwischen dem amtierenden konservativen Präsidenten Andrzej Duda und seinem liberalen Herausforderer, dem Warschauer Bürgermeister Rafał Trzaskowski, entscheiden. Obwohl in Polen heftig umstritten, scheint davon in Deutschland kaum jemand wirklich Notiz zu nehmen. Warum eigentlich? Polen, der nahe und scheinbar doch so ferne Nachbar im Nordosten Europas. Wir haben Polen im Sommer 2018 knapp zwei Wochen lang bereist – einmal quer durchs ganze Land von der Ostseeküste im Norden nach Schlesien im Süden - und waren tief bewegt: von der Schönheit der Natur, dem kulturellen Reichtum der Städte und Dörfer, der – maßgeblich von Deutschen mitverursachten - Tragik der Geschichte, aber auch von der Aufgeschlossenheit und Freundlichkeit der Menschen.

16. Juli: Ampeldreher und Raser

Nach der polnischen Grenze bremsten die Wechsel zwischen ausgebauten Autobahnabschnitten, alten Holperpisten aus Sowjetzeiten und Straßen ohne Überholmöglichkeit die Reisegeschwindigkeit. Mehrmals Stau vor Baustellenampeln. Vor den Ampeln die erste polnische Kuriosität: Ampeldreher. Das sind Menschen in Sicherheitswesten, die neben umgedrehten Ampeln mit einem fest eingestellten Ampelsignal sitzen. Nur bei Bedarf wird die Ampel in Richtung des heranfahrenden Verkehrs geschwenkt, um diesen zu stoppen.
Die Dörfer erinnerten an die französische Provinz. Meistens waren die Vorgärten und Fensterbänke mit vielen Blumen geschmückt, man sah viele neue Autos aus dem europäischen Ausland. Und es wurde viel, auch privat gebaut. Viele deutsche und internationale Firmen unterhalten Niederlassungen in Polen. Der europäische Wohlstand scheint sehr willkommen. Vielleicht haben die Polen auch Glück, dass sie noch ihre eigene Währung haben, die sie nach Belieben auf- und abwerten können.
Leider sah man an den Straßenrändern auch sehr viele tot gefahrene Kleintiere. Ein weiterer Grund für das Artensterben – wie in Deutschland. Auch in Polen gibt es sehr viele Raser, die zum Teil in den abenteuerlichsten Situationen überholen. Gerne vor Kuppen oder in Kurven, dass es einen schaudert.

Ehemalige Hansestadt, Festung und Ostseebad

Auf einem umzäunten und bewachten Parkplatz vor einem gewaltigen Plattenbau stellten wir das Auto ab. Fünf Zloty je anderthalb Stunden. Der alte Parkwächter sprach uns auf Polnisch an, wir behalfen uns mit Handzeichen. Aus Respekt sagte ich zum Abschied das einzige polnische Wort, das mir ein Freund beigebracht hat: „Dziekuje – Danke!“ Wir spazierten über eine Flussbrücke, die früher eine Schießgalerie hatte. Das im 12. Jahrhundert als deutsche Siedlung gegründete Kolberg war seit dem 14. Jahrhundert eine Hansestadt, später eine Festungsstadt – wie zum Beispiel das französische Belfort. Nur dass Kołobrzeg direkt an der Ostsee liegt. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Stadt fast vollständig zerstört. Auf Umwegen – vorbei am Militärmuseum mit einem alten MiG-Kampfjet direkt am Straßenrand - gelangten wir zum zentralen „Platz des 18. März“. Eine Grünfläche, auf der ein Jahrmarkt mit Buden, Billigständen und Fahrgeschäften aufgebaut war.

Park, Päpste, Plattenbauten

Solche quietschbunten Vergnügungsparks gehören in Polen anscheinend zum Urlaubserlebnis. Wir haben sie öfters angetroffen. Vorbei am mächtigen, nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebauten Mariendom, der einzigen fünfschiffigen Kirche in Polen. An deren Chorseite steht eine monumentale Kreuzigungsgruppe, in der neben dem verstorbenen polnischen Papst Johannes Paul II. auch sein deutscher Nachfolger Benedikt XVI. dargestellt ist. Die aus dem 14. Jahrhundert stammende Backsteinbasilika gilt als Beispiel für die pommersche Gotik.
Gegenüber im ebenfalls aus roten Backsteinen gemauerten, 1832 nach Plänen des Architekten Karl Friedrich Schinkel errichteten und tiptop restaurierten neugotischen Rathaus ist auch die Tourist-Info untergebracht, wo wir uns den dringend benötigten Stadtplan besorgten. Die schmalen Bürgerhäuser rundherum sind meistens modernisiert, aber nicht alle stilgerecht. Gleich um die Ecke, sozusagen als Begrenzung oder vielleicht auch als Windfang der historischen Altstadt gegen eisige Winterstürme aus dem Osten stehen die enormen Plattenbauten der kommunistischen Ära, die nicht etwa abgerissen, sondern fleißig renoviert werden. Die Läden in den Erdgeschossen der Bürgerhäuser sind bestens bestückt – mit Floristen, Juwelieren, Nippeshändlern, Restaurants, Bars. Es gibt Durchgänge zu den dahinter liegenden Innenhöfen. Unser Weg führte entlang der im Stadtplan noch nicht als solche benannten Allee von Johannes Paul II. Richtung Hafen und Leuchtturm am nordwestlichen Ende der Stadt. Je näher wir dem Hafen kamen, desto mehr Nippes und Restaurants. Der Tourismus ist eine wichtige Einnahmequelle.

Strandrummel und Wikinger

Der offizielle Strandzugang von Kołobrzeg ist ein Rummel, flankiert von einem riesigen Hotel- und einem modernen Gewerbebau. Eine junge Violonistin spielte schwungvoll zu Playback-Musik. Die mit 220 Metern längste aus Stahlbeton errichtete Seebrücke in Polen führt hinaus aufs Wasser. Am Ende liegt quer wie ein angelandetes Schiff ein klimatisiertes Restaurant mit Aussichtsterrasse. Angesichts des sonnig-heißen Julitags herrschte am Stadtstrand ein buntes Getümmel - in diesem Ausmaß wegen der Corona-Pandemie heute sicher unvorstellbar. Von der Ostsee näherte sich ein Wikingerboot, das nur kurz in den Hafen einzulaufen und gleich wieder wegzufahren schien. Was es damit auf sich hatte, verstanden wir erst am Folgetag in Łeba. Bis zur nordwestlichen Landzunge mit der Kanalmündung und dem historischen Leuchtturm waren es schätzungsweise noch zwei Kilometer. Angesichts des Rummels und wegen unserer begrenzten Zeit traten wir bald durch den auf einer ehemaligen Stranddüne errichteten, schattigen Uferpark den Rückweg an.

Erste Bekanntschaft mit Nebenstrecken

Dass uns das Navi vor Koszalin immer wieder auf die noch im Bau befindliche und daher (noch) nicht existente Ringautobahn lotsen wollte, kostete einen Umweg. Dabei machten wir erste Bekanntschaft mit den zum Teil miserablen Nebenstrecken mit enormen Schlaglöchern, vor denen niemand und nichts warnt – Langsamfahren absolute Bedingung! Auch die Straße von Lebork bis Łeba war im (Um-)Bau. Immer wieder Warten vor Baustellenampeln kostete Geduld und Nerven. Gegen 21.30 Uhr trafen wir in endlich in Żarnowska, unserer Unterkunft für die nächsten zwei Tage ein. Und wurden mit einem romantischen Sonnenuntergang über dem Łeba-See belohnt.
Chris Heinemann

Alle Fotos: ch

Den zweiten Teil des Reiseberichts unter dem Titel „Łeba und Hel: Von der polnischen Sahara auf die Halbinsel Hela“ lesen Sie nächste Woche an dieser Stelle.

Weitere Berichte von anderen Reisenden aus der Region lesen Sie auf unserer Themenseite: Reiseberichte

Autor:

Chris Heinemann aus Region

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