Richterin am Bundesverfassungsgericht spricht an der Hochschule Pforzheim über Europa aus rechtlicher Sicht
„Europa ist eine Erfolgsgeschichte!“
PFORZHEIM (kn) „Ich möchte heute versuchen, ein positives Bild von Europa zu vermitteln und das Modell am Beispiel der Rechtsprechung vorzustellen“, begrüßte Dr. Sibylle Kessal-Wulf, Richterin am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, die Zuhörer an der Hochschule Pforzheim. „Zugleich möchte ich Sie darin bestärken, dass wir Europa und seine Grundsätze brauchen, um unsere demokratischen Strukturen zu stärken und nachhaltig zu sichern.“ Kessal-Wulf sprach im Studium Generale zum Thema „Europa ohne Wenn und Aber? Grundgesetz und Europa in der Rechtsprechung“.
Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte
Sibylle Kessal-Wulf wurde 2011 zur Richterin des Bundesverfassungsgerichts gewählt, wo sie dem Zweiten Senat angehört. Schaut man sich dieser Tage in Europa um, scheint es an der einen oder anderen Stelle aus den Fugen zu geraten, so Kessal-Wulf. Man höre Rufe nach einem reformierten Europa oder auch nach weniger Europa. Angesichts der Situation sei man versucht, an die Worte Churchills aus seiner Rede von 1946 zu erinnern: „Wäre jemals ein vereintes Europa im Stande, sich das gemeinsame Erbe zu teilen, dann genössen seine Einwohner Glück, Wohlstand und Ruhm von unbegrenztem Ausmaße.“ Churchill warf die Frage auf, wie eine Wiederkehr der dunklen Zeiten verhindert werden könne. Der Frieden und die Herrschaft des Rechts waren dabei zentrale Triebfedern. Ziehe man allerdings gegenwärtig Bilanz, so Kessal-Wulf, scheine Europa von immer neuen Krisen geprägt zu sein. Dabei sei es eine Erfolgsgeschichte. Die Wahrung des Friedens, offene Grenzen, wirtschaftlicher und sozialer Erfolg kennzeichnen nach ihren Worten das Modell Europa. „Nicht ohne Grund wurde die Europäische Union (EU) 2012 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Bei der Preisverleihung begründete das Komitee seine Entscheidung mit der stabilisierenden Rolle der EU bei der Umwandlung Europas von einem Kontinent der Kriege zu einem Kontinent des Friedens." Die größte Errungenschaft der Union sei ihr Kampf für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte“, so Kessal-Wulf.
Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit
Wie funktioniert nun das judikative Modell Europa und wie lässt sich die Balance zwischen dem supranationalen System einerseits und der mitgliedsstaatlichen Souveränität andererseits halten? Die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts ist laut Kessal-Wulf klar umrissen: „Es stellt die Einhaltung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland sicher.“ Das gelte vor allem für die Grundrechte der Bürger. Das Gericht selbst sei ein Verfassungsorgan, das die ihm zugewiesenen Aufgaben als unabhängige Einrichtung erfüllt. „Wir sind in Europa aber nicht allein. Wir begegnen neben den europäischen Gerichten auch den Verfassungs- und höchsten Gerichten der anderen Mitgliedstaaten“, so Kessal-Wulf. „Es besteht ein europäischer Verbund, der im ständigen Dialog steht. Auf nationaler und supranationaler Ebene begegnen sich Rechtsräume, die voneinander abzugrenzen sind, aber ebenso zusammenarbeiten“, so die Verfassungsrichterin. Jeder Staat sei aufgerufen, das Rechtssystem des anderen zu schonen, es aber zugleich bei der Ausgestaltung des eigenen zu berücksichtigen. Unser Grundgesetz sieht vor, dass Deutschland als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen soll. Es herrscht ein Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit. Dennoch muss jede Abgabe von Kompetenzen und jeder Vertrag vom Bundestag abgesegnet werden, denn auch in europäischen Belangen geht alle Staatsgewalt vom Volke aus.
Dialog mit übergeordneten Gerichten
Die supranationalen Gerichte, mit denen das Bundesverfassungsgericht im Dialog steht, sind unter anderem der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) sowie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Diese beiden Institutionen stellte Sibylle Kessal-Wulf in ihrem Vortrag beim Studium Generale ausführlich vor, bevor auch an diesem Abend wieder Fragen aus dem Publikum beantwortet wurden. Das Studium Generale setzt sein Programm am Mittwoch, 13. November 2019, fort. Professor Dr. med. Dr. rer. nat. Perikles Simon vom Institut für Sportwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz spricht zum Thema „Sport: Über das Fassungsvermögen eines Jungbrunnens“.
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Autor:Chris Heinemann aus Bretten |
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