„Wie hätte ich mich verhalten?“
Ein Gespräch mit Natalia Lakman und Heidi Leins über die Stolpersteine

Für die Serie der Brettener Woche/kraichgau.news „Die Schicksale hinter den Steinen“ konnte die Lehrerin Natalia Lakman (links) Schülerinnen aus ihrem Geschichtsbasiskurs gewinnen. Heidi Leins versorgt sie mit den nötigen Informationen. | Foto: ger
  • Für die Serie der Brettener Woche/kraichgau.news „Die Schicksale hinter den Steinen“ konnte die Lehrerin Natalia Lakman (links) Schülerinnen aus ihrem Geschichtsbasiskurs gewinnen. Heidi Leins versorgt sie mit den nötigen Informationen.
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Bretten (ger) Die Stolpersteine in Bretten sind auf Initiative der Geschichtsleistungskurse des Melanchthon-Gymnasiums Bretten (MGB) und ihrer Lehrer Dirk Lundberg und Volker Adam ab dem Jahr 2004 in Bretten verlegt worden. Seither erinnern Schülerinnen und Schüler am 9. November, dem Gedenktag der Reichspogromnacht 1938, an die Schicksale hinter den Steinen. Seit Lundberg und Adam nicht mehr am MGB sind, kümmern sich Natalia Lakman, Sandra Fichtner und Simone Mayer um die Aktion. Heidi Leins, die jahrzehntelang als Stadträtin tätig war und für ihr außerordentliches gesellschaftliches Engagement auf vielen Ebenen unter anderem das Bundesverdienstkreuz erhalten hat, befasst sich schon lange mit der Geschichte des jüdischen Lebens in Bretten. Gerade schreibt sie an einer Dokumentation über die Brettener Juden, die alle bekannten Daten enthält. Für die Serie in der Brettener Woche und auf kraichgau.news „Die Schicksale hinter den Steinen“ konnte Lakman Schülerinnen aus ihrem Geschichtsbasiskurs gewinnen. Leins versorgt sie mit den nötigen Informationen.

Frau Leins, Sie gelten ja als der Ansprechpartner schlechthin, wenn es um das Leben der Juden in Bretten geht. Wie ist das Thema zu Ihnen gekommen?
Leins: Mein Interesse an Geschichte hat ein toller Lehrer schon in der fünften Klasse geweckt. Das Tagebuch der Anne Frank hat mich sehr beeindruckt, mit 18 war ich in Amsterdam und habe ihr Haus angeschaut. Und in meiner Familie wurde die NS-Zeit nicht totgeschwiegen. Meine Mutter glaubte nicht daran, dass die Leute nichts von all dem mitbekommen hatten, was den Juden angetan wurde. Ich hatte einen Onkel, der über den Krieg einen Juden in verschiedenen Schrebergartenhäuschen versteckt hatte. Es gab aber auch einen Onkel, der bei der SS war, und der meinen Großvater, der für französische Kriegsgefangene Brot bereitlegte, drohte zu denunzieren.
Meine Recherchen zu den jüdischen Familien in Bretten haben begonnen, als Pariser Verwandte der Familie Koppel auf Spurensuche in der Melanchthonstadt waren. Da sie nur französisch sprachen, wurde mein Mann als Dolmetscher gerufen. Ich half dabei, die Familiengeschichte aufzuarbeiten. Dabei konnte ich auch die unehelichen Kinder von Alfred Koppel ausfindig machen. Als ich den Kontakt zu ihnen herstellte, sagte seine Tochter zu mir, dass ich ihr die andere Hälfte ihrer Identität gegeben hätte. Das Thema hat mich seither nicht mehr losgelassen.

Frau Lakman, wie geht man in der Schule im Fach Geschichte an das Thema NS-Zeit heran?
Lakman: Ab der neunten Klasse wird das Thema behandelt. Im ersten Halbjahr führen wir an die NS-Zeit heran, beleuchten auch Hitlers Biographie und gehen auf die Stimmung in Österreich-Ungarn ein, wo er aufgewachsen ist. Man geht immer vom Konkreten zum Abstrakten. Denn wenn man sagt, sechs Millionen Juden sind von den Nazis ermordet worden, sagen die Schüler: „Das sind aber viele!“, sind aber nicht wirklich beeindruckt. Anhand einzelner Schicksale zeigt man, was der einzelne Mensch durchgemacht hat. Und wenn es Schicksale in der eigenen Stadt sind, ist das erst recht beeindruckend. In der Kursstufe, also in der elften und zwölften Klasse wiederholen und vertiefen wir die Themen.
Am 19. April besuchen wir im Rahmen eines historischen Tags an der Schule mit den Elfern die Gedenkstätte des Lagers Natzweiler-Struthof. Die Schülerinnen und Schüler halten dort Referate zum Thema und ich bereite eine Führung vor, wo ich auch Quellen und Gedichte vorlese. So haben wir Zeit, individuell auf alles einzugehen, was die Jugendlichen bewegt.

Wie reagieren die Jugendlichen auf die schrecklichen, unmenschlichen Taten der Nationalsozialisten?
Lakman: Die Schüler sind sehr empathisch, es beeindruckt sie nachhaltig. Oft gehen sie nach den Geschichtsstunden zur NS-Zeit nicht direkt in die Pause, sondern haben noch Gesprächsbedarf. Was sie auch bewegt, ist die Frage: Wie hätte ich mich verhalten? Ich höre oft, dass sich die Jugendlichen untereinander darüber unterhalten und sich auch fragen, welche Rolle ihre Urgroßeltern damals gespielt haben. Im Unterricht behandeln wir auch das Einzelleben der „anderen“ Seite, also zum Beispiel, dass ein SS-Mann, der Schreckliches getan hat, privat ein liebevoller Familienvater war.
Und auch das Thema Widerstand behandeln wir exemplarisch anhand einzelner Person, etwa der Weißen Rose. Und auf die Frage: Lohnt sich das überhaupt?, antworten die Schüler immer mit ja! Wenn man aber die Konsequenzen beschreibt, dass darauf die Todesstrafe folgte, werden sie nachdenklich.

Neulich wurden die beschädigten Stolpersteine in der Weißhofer Straße 96 ersetzt. Waren das die ersten Steine, die ersetzt werden mussten?
Leins: Ja, das war das erste Mal. Es ist nicht mit Sicherheit festzustellen, ob sie mutwillig beschädigt wurden, aber für mich sieht es so aus.
Lakman: Den Schülern war es ganz wichtig, dass sie ersetzt werden. Und neulich hat mir ein Schüler, der dort vorbeikam, ganz glücklich erzählt, dass sie immer noch schön glänzen.

Wie ist die Resonanz auf die Stolperstein-Aktion, die immer am 9. November stattfindet?
Lakman: Die Schülerinnen und Schüler sind da immer sehr engagiert. Oft sind sie enttäuscht, dass viele Passanten nicht nachfragen, warum sie da stehen und die Steine mit Kerzen beleuchtet und mit weißen Rosen geschmückt sind. Manche Schüler sind mutig und sprechen die Leute von sich aus an, um über die Schicksale zu erzählen. Als beim letzten Mal eine Autofahrerin in der Pforzheimer Straße beim Einparken über die Kerze gefahren ist, waren sie sehr empört und wollten mit der Frau sprechen.
Manchmal kommt als Reaktion auf die Stolpersteine der Ausruf „Free Palestine“. Wenn ich mit den Jugendlichen darüber spreche, ist das für sie ganz klar moderner Antisemitismus, denn die Menschen während der NS-Zeit haben ja nichts mit Situation im Nahen Osten heute zu tun.
Leins: Dieses Jahr wird bei der Aktion ein Stolperstein ausgetauscht. Es hat sich herausgestellt, dass die Daten, die darauf vermerkt sind, nicht stimmen.

Die Fragen stellte Redakteurin Katrin Gerweck.

Die Folgen der Serie finden Sie auf unserer Themenseite "Schicksale hinter Stolpersteinen".

Autor:

Katrin Gerweck aus Bretten

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