Lockdown macht Jugendliche krank
Noch nie da gewesener Andrang

Foto: WavebreakMediaMicro / stock.adobe.com

Von Tatjana Bojic, dpa

Tübingen (dpa/lsw) Depressionen, Ängste, geringer Appetit oder Heißhunger und familiäre Spannungen: Die wenigen Studien zu den Auswirkungen der Isolation von Kindern und Jugendlichen in der Corona-Pandemie lassen wenig Gutes ahnen. Der Leiter der Tübinger Kinder- und Jugendpsychiatrie Tobias Renner sagt, dass psychische Störungen mit schwerem Verlauf seit dem vergangenen Sommer erheblich zugenommen hätten und mehr Aufmerksamkeit bräuchten. «Aktuell zählen wir bei uns einen enormen Anstieg des Versorgungsbedarfs», sagt Renner. Der Austausch mit Kollegen anderer Einrichtungen habe zum selben Ergebnis geführt - alle Plätze belegt, keine Luft nach oben.

In den Sommerferien sonst weniger Fälle

Die schon vor der Pandemie sehr hohe Auslastung in Tübingen sei im letzten Quartal des vergangenen Jahres explodiert, erzählt Renner. Ein Vielfaches an Notfällen und Notaufnahmen habe sich schon im vergangenen Sommer abgezeichnet. «Sonst hatten wir in den Sommerferien immer weniger Fälle. Das war 2020 anders und hat mit der ersten Corona-Welle zu tun.» Die Situation habe sich im Oktober, November und Dezember nochmal zugespitzt, mit noch nie da gewesenem Andrang.

Komplexere Krankheitsbilder

Besonders viele junge Menschen kämen mit akuter Magersucht (Anorexia) und Zwangsstörungen, sagt Renner. «Diese Krankheitsbilder sind jetzt deutlich komplexer und schwerer geworden», erklärt Renner. Angst vor der Zukunft und Kontamination verbunden mit Waschzwang, Isolation und wenig Bewegung schlage aufs Gemüt. Durch die hohe Notfallquote könnten kaum noch Patienten in die stationäre Behandlungen in Tübingen aufgenommen werden. «Wir platzen aus allen Nähten.» Derzeit seien in Tübingen 100 Kinder und Jugendliche auf der Warteliste.

Psychische Auffälligkeiten steigen um 13 Prozent

Laut dem Robert Koch-Institut (RKI) sind Kinder und Jugendliche von der Pandemie und den Einschränkungen besonders betroffen. Bei künftigen Pandemien oder weiteren Wellen der jetzigen Corona-Pandemie sollten deren Bedürfnisse stärker berücksichtigt werden. Erste Studien weisen nach Auskunft von Renner darauf hin, dass insbesondere Kinder mit psychischen Störungen und Kinder in schwierigen psychosozialen Situationen unter der Pandemie leiden. In der im Juli 2020 veröffentlichten Copsy-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) spürten 71 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen im Zuge der Pandemie seelische Belastungen. Zwei Drittel der Befragten sahen ihre Lebensqualität als niedrig an - vor der Krise waren es laut UKE nur ein Drittel. Das Risiko für psychische Auffälligkeiten steige von rund 18 Prozent vor Corona auf 31 Prozent während der Krise. «Wir haben mit einer Verschlechterung des psychischen Wohlbefindens in der Krise gerechnet. Dass sie allerdings so deutlich ausfällt, hat auch uns überrascht», sagte damals Studienleiterin Ulrike Ravens-Sieberer.

Angebote weiter ausbauen

Renner befürchtet, dass die zweite Corona-Welle noch viel schlechtere Ergebnisse in Studien zu Tage fördern werde. Der Arzt appellierte an die Politik, Kinder und Jugendliche aber auch die Kliniken nicht aus den Augen zu verlieren. «Niederschwellige Beratung und Versorgung ohne lange Wartezeiten müssen sichergestellt werden, denn was wir erleben ist kein Strohfeuer.» Sozialminister Manne Lucha (Grüne) sagt, es sei wichtig, schon früh psychische Störungen und Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen zu erkennen und zu behandeln. «Die Pandemie hat uns gezeigt, dass wir in diesem Bereich die verschiedenen Versorgungselemente und Hilfsangebote gut miteinander vernetzen und künftig weiter ausbauen müssen.» Der Landespsychiatrieplan müsse im Zuge der Corona-Pandemie auf den Prüfstand gestellt werden. «Gerade die Angebote für Kinder und Jugendliche im ambulanten Hilfe- und Versorgungssystem müssen weiter ausgebaut und publik gemacht werden.» Die Corona-Krise werde auch in diesem Bereich völlig neue Handlungsfelder und Herausforderungen schaffen, die heute noch gar nicht umfassend abzusehen seien.

Benötigte Plätze zwischen 2015 und 2021 gestiegen

Im Zeitraum von 2015 bis 2021 hatten sich laut dem Sozialministerium im Fachgebiet Kinder- und Jugendpsychiatrie die teilstationären Plätze von 285 auf 392 und die vollstationären Betten von 597 auf 671 erhöht. Nach Auskunft der Kassenärztlichen Vereinigung gibt es im Südwesten derzeit rund 130 Kinder- und Jugendpsychiater und rund 760 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten.

Autor:

Beatrix Drescher aus Bretten

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