Polen – Entdeckungsreise auf den Spuren der europäischen Geschichte, Teil 10: Wrocław / Breslau 1
Subversive Zwerge und polnische Europäer

Hoffen auf Europa: Abendliche Kundgebung auf dem Marktplatz in Wroclaw für den Schutz der polnischen Verfassung. | Foto: ch
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  • Hoffen auf Europa: Abendliche Kundgebung auf dem Marktplatz in Wroclaw für den Schutz der polnischen Verfassung.
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Mittwoch, 25. Juli: Katzensprung nach Wrocław

Die Strecke von Oświęcim nach Wrocław, der letzten Station unserer Polenreise, bewältigten wir noch am Nachmittag unseres Ausschwitz-Besuchs in rund drei Stunden. Vom Hotel waren es nur wenige Gehminuten ins Zentrum, sodass wir das Abendlicht wiederum für einen ersten Stadtbummel nutzen konnten.

Wiederauferstanden aus Ruinen

Von zahlreichen Erwähnungen im Verwandtenkreis war mir Breslau zwar durchaus geläufig, und hin und wieder war ich auch jemandem begegnet, der sich als gebürtiger Breslauer zu erkennen gegeben hatte. Dennoch wusste ich von der früheren Hauptstadt der historischen Region Schlesien wenig mehr, als dass sie kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs in den Rückzugsgefechten der deutschen Wehrmacht fast vollständig in Trümmer gelegt worden war. Entsprechende Zeitschriftenfotos hatten sich mir eingeprägt. Noch heute erinnern an vielen Stellen der Stadt Fototafeln an die Schrecken der Zerstörung. Gleichwohl bietet die Altstadt dank der bereits erwähnten polnischen Restaurierungskünste heute wieder einen imposanten Anblick. Rund um eine aus Altem und Neuem Rathaus sowie anderen Häusern gebildete Mitte reihen sich farbenfrohe, bis zu sieben Etagen hohe Bürgerhäuser zum Großen Ring (Rynek), dem historischem Marktplatz. Ein absoluter Hingucker ist die Ostfassade des als „Perle der schlesischen Gotik“ gerühmten Alten Rathauses mit dem 1508 vollendeten Mittelgiebel, geschmückt von einer astronomischen Uhr. Einen durchaus angenehmen Kontrast zu so viel ehrwürdiger Baugeschichte bildet der 1996 nach einer Idee des Kunstprofessors Alojzy Gryt errichtete Zdrój-Brunnen vor der langgestreckten Fassade des Neuen Rathauses. Die aus Fontänen zwischen mehreren Reihen wellenartig geformter grüner Glasscheiben bestehenden Wasserspiele mussten gegen den Widerstand von Denkmalschützern durchgesetzt werden und sind heute ein beliebter Treffpunkt. Während vor einigen der zahlreichen, gut besuchten Restaurants Gäste in Liegenstühlen das Panorama genossen, flanierten andere in Grüppchen über den weitläufigen Ring-Platz oder schauten und hörten einem der diversen Straßenmusiker und Kleinkünstler zu. Eine am Rande lagernde Gruppe jugendlicher Punks verstärkte den Eindruck eines liberalen Stadtklimas.

Jagd auf Zipfelmützen

Vom Marktplatz aus warfen wir auch einen Blick auf den angrenzenden, von Blumenhändlern geprägten Salzmarkt (Plac Solny) und in ein paar Seitenstraßen, wo wir unter anderem in einem Hof die Księgarnia Hiszpańska (Spanische Buchhandlung) entdeckten. Und dann begegneten wir ihnen: auf dem Straßenpflaster, an Hausecken, sogar an Laternenmasten. Überall Zwerge. Kleine Bronzefiguren in allen Lebenslagen und mit entsprechenden Accessoires. Was auf uns Touristen auf den ersten Blick belustigend und kurios wirkt, hat einen politischen Hintergrund, den uns ein freundlicher Empfangsmitarbeiter unseres Hotels am nächsten Morgen erläuterte: In den 1980er Jahren wehrte sich die Oppositionsbewegung „Orange Alternative“, das Breslauer Pendant zur Danziger Solidarność, mit Demonstrationen im Zwergenkostüm, Zwergen-Graffitis und der Aufstellung eines Zwergendenkmals in der Altstadt sowie anderen spontanen Aktionen gegen die Unterdrückung durch das kommunistische Regime. Daran erinnern die seit 2001 nach und nach von Kunststudenten und anderen Aktivisten, mittlerweile aber auch von Geschäftsleuten aufgestellten über 600 Miniaturskulpturen. Sinnbilder für Vielfalt, hintergründigen Humor und eine subversive Nonkonformität. Nicht nur für Kinder sind die kleinen Zipfelmützenträger ausgesprochen unterhaltsam. Man begegnet ihnen in der gesamten Innenstadt, und auch wir machten uns einen Spaß daraus, Zwergenfotos zu sammeln.

Blaue Fahnen zur blauen Stunde

Derweil war die Sonne untergegangen. Straßenlaternen, beleuchtete Gebäude und Firmenschilder erhellten die „blaue Stunde“ vor Einbruch der Nacht. Von einem Straßencafé aus beobachteten wir, wie sich vor der gotischen Fassade des Alten Rathauses eine Menschenmenge versammelte. Spruchbänder wurden entfaltet, rot-weiße polnische und blaue Europafahnen geschwenkt. Zu erkennen waren Parolen wie „VETO!!!“ und „EU PLEASE HELP US TO DEFEND POLISH CONSTITUTION! #FREECOURTS“ – „Europäische Union, bitte hilf uns, die polnische Verfassung zu verteidigen! #Freie Gerichte“. Neugierig näherten wir uns der Kundgebung, um zu erfahren, worum es ging. Vor dem Rednerpult standen Frauen und Männer mit Tafeln, auf denen jeweils nur ein Buchstabe zu lesen war. Zusammen ergab sich daraus das polnische Wort für Verfassung: KONSTYTUCJA. Ich sprach einen jungen Mann an, der mir als Kundgebungsanlass die damals erst wenige Tage alte Zwangspensionierung der Richter am Obersten Gericht Polens nannte. Durch die Anfang Juli 2018 vom polnischen Parlament mit der absoluten Mehrheit der rechtskonservativen PiS-Partei in Kraft gesetzte Senkung des Pensionsalters von 70 auf 65 Jahre sollten unbequeme Oberste Richter vorzeitig in den Ruhestand geschickt werden.

Europahymne vor dem Schlafengehen

Aufsehen erregte damals die ebenfalls betroffene Präsidentin des Obersten Gerichts Małgorzata Gersdorf, die sich weigerte, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen. Sie berief sich auf die polnische Verfassung, wonach ihre Amtszeit erst im April 2020 ende. Womit sie aus heutiger Sicht auch Erfolg hatte. Nicht zuletzt, weil der Europäische Gerichtshof die Zwangspensionierung wegen Verstoßes gegen die richterliche Unabhängigkeit für unwirksam erklärte. Doch so weit war es damals in Wrocław noch nicht. Die Versammelten protestierten gegen den aus ihrer Sicht akuten Verstoß der regierenden PiS gegen die polnische Verfassung. Mein Gesprächspartner übersetzte mir die skandierten Sprechchöre: „Wrocław – Festung der Demokratie“. Einer der prominenten Redner war Józef Pinior, ein ehemaliger Aktivist der Gewerkschaft Solidarność und Abgeordneter des Europäischen Parlaments. Zum Abschluss sang die Menge die Europahymne, und wir machten uns auf den Weg ins Hotel.

Den elften Teil des Reiseberichts Polen unter dem Titel „Wrocław/Breslau 2: Polnisches Venedig und konspirative Küche“ lesen Sie nächste Woche an dieser Stelle.

Die vorangegangenen Teile und weitere Berichte von anderen Reisenden aus der Region lesen Sie auf unserer Themenseite: Reiseberichte

Autor:

Chris Heinemann aus Region

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