Polen – Entdeckungsreise auf den Spuren der europäischen Geschichte, Teil 4: Gdansk / Danzig 2
Von Hitlers Weltkrieg zum demokratischen Wandel

Fähnchen und Papst-Bild am Tor der Gedenkstätte Europäisches Solidarnosc-Zentrum in Danzig: Streiks in der ehemaligen Lenin-Werft setzten ab 1980 den demokratischen Wandel in Polen und dem früheren Ostblock in Gang. | Foto: ch
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  • Fähnchen und Papst-Bild am Tor der Gedenkstätte Europäisches Solidarnosc-Zentrum in Danzig: Streiks in der ehemaligen Lenin-Werft setzten ab 1980 den demokratischen Wandel in Polen und dem früheren Ostblock in Gang.
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Freitag, 20. Juli: Auf dem Königsweg

Beim zweiten Mal betraten wir die Stadtmitte, indem wir den Rückweg vom Vorabend in umgekehrter Richtung beschritten: Der sogenannte Königsweg, den die polnischen Könige zurücklegten, wenn sie die Stadt besuchten, führt von dem - an einen antiken Triumphbogen erinnernden - Hohen Tor (Brama Wyżynna) über die Langgasse zum Grünen Tor (Zielona Brama) an der Mottlau, vorbei am rund 650 Jahre alten Rathaus der Rechtstadt (Głowne Miasto) mit seinem majestätischen Turm, an dem im 15. Jahrhundert erbauten Artushof, wo die herrschende Kaufmannselite ihre Feste und Empfänge gab, und an dem davor sprudelnden Neptunbrunnen, Symbol für die einstige Macht der Seehandelsstadt, über den von repräsentativen Patrizierhäusern umrahmten Langen Markt (Długi Targ). Erstes Ziel war die Anlegestelle des Touristenboots zur Halbinsel Westerplatte.

Wo Hitler den Zweiten Weltkrieg begann

Mit einem als Freibeuter ausstaffierten Hafenschlepper steuerten wir den Punkt an, an dem der deutsche Diktator Adolf Hitler den Zweiten Weltkrieg auslöste. Wie in Reiseführern nachzulesen, begann das deutsche Schulschiff „Schleswig Holstein“ frühmorgens am 1. September 1939 den Angriff auf das polnische Munitionsdepot vor der ehemals Freien Stadt Danzig, dem die Garnison jedoch eine Woche lang standhielt. Das Ergebnis: insgesamt über 60 Tote, davon 16 polnische Soldaten. Auf großen Schautafeln sind die unseligen Ereignisse nachzulesen. Zum Gedenken an die polnischen Verteidiger der Westerplatte wurde 1966 auf einem künstlichen Hügel ein 23 Meter hohes Mahnmal errichtet. Wir hatten etwa eine Stunde Zeit, zu Fuß die ehemalige Kampfzone mit der monumentalen Gedenkstätte zu erkunden, ehe wir mit demselben Boot wieder zurückfuhren.
Während der Bootsfahrt wurden wir von einem Sänger und Gitarrist mit internationalen und polnischen Folk- und Rocksongs ausgezeichnet unterhalten. Unter den Passagieren eine hörbar schwäbische Reisegruppe und ein Ehepaar mit Tochter aus der Ukraine. Mit dem Mann kam ich kurz ins Gespräch und er verabschiedete sich, als wir an Land gingen, mit einem besonders herzlichen Händedruck.

Wo Arbeiter den demokratischen Wandel erzwangen

Am Nachmittag machten wir uns zu Fuß auf zum Europäischen Solidarność-Zentrum. In einer riesigen, an einen verrosteten Schiffskörper erinnernden Halle auf dem Gelände der ehemaligen Lenin-Werft schauten wir uns die interaktive Ausstellung zur Entstehung der ursprünglich von Hafenarbeitern getragenen, unabhängigen Gewerkschaft Solidarność (deutsch: Solidarität), zu ihrem Einfluss auf den Sturz der kommunistischen Diktatur, die Entstehung eines demokratischen Polen sowie die friedliche Demokratisierung Mittel- und Osteuropas im Jahr 1989 an. Der erste, durch erhöhte Lebensmittelpreise ausgelöste Werftarbeiterstreik 1980 war von der polnischen Armee noch blutig niedergeschlagen worden. 1988 zwangen erneute Streiks die Regierung des ehemaligen Generals Jaruzelski an den Verhandlungstisch. Erster Staatspräsident der aus den folgenden Umwälzungen hervorgegangenen demokratischen Republik Polen wurde, wie bekannt, der gelernte Elektriker, Werftarbeiter und Solidarność-Vorsitzende Lech Wałęsa, der bereits 1983 für sein Engagement mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde.

Erinnerung an einen unbequemen Literaten

Auf dem Rückweg machten wir – per Straßenbahn und zu Fuß - noch einen Abstecher in den Stadtteil Wrzeszcz (Langfuhr), in dem der Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass geboren wurde. Der Autor der „Blechtrommel“, der zeitlebens die negativen Folgen des Nationalsozialismus für Deutschland und die Welt zur Sprache brachte, hat die Umgebung seiner Kindheit und Jugend in seinen Werken beschrieben. Wir suchten nach dem Denkmal für den Schriftsteller. Hinter einem Brunnen auf dem Plac Wybickiego entdeckte ich die Bank aus Bronze, auf der seit 2002 Oskar, die Hauptfigur als Grass´ „Blechtrommel“-Roman sitzt. Die Grass-Figur mit einem aufgeschlagenen Buch und Tabakpfeife wurde erst 2015, ein halbes Jahr nach Tod des Schriftstellers, daneben gesetzt, weil sich der Geehrte zu Lebzeiten gegen ein Denkmal wehrte. Bei meinen Fotos gerieten unbeabsichtigt zwei junge Männer am Rand des Brunnens mit aufs Bild, von denen einer abwehrend die Hand hob. Ich erklärte Damian, einem jungen Werft-Monteur mit kleinem Hund, und seinem Freund, dem Konditor Konrad, dass ich nicht sie, sondern das Denkmal im Fokus hatte. Darauf führten mich beide zum Grass-Geburtshaus in einer Seitenstraße, der Uliza Lelewela 13, wo sich der kleine Kolonialwarenladen von Grass´ Eltern befand. Über einem Fenster im Erdgeschoss ist eine Erinnerungstafel mit einem Zitat aus der „Blechtrommel“ angebracht, vor dem Haus steht eine weitere Tafel der Günter-Grass-Gedenkroute. Obwohl er anfangs auf keinen Fall fotografiert werden wollte, posierte Adrian zum Abschied sogar mit mir auf der Gedenk-Bank zwischen Grass und Oskar.
Chris Heinemann

Alle Fotos: ch

Den fünften Teil des Reiseberichts Polen unter dem Titel „Malbork/Marienburg: Deutschordensritter und Folklore“ lesen Sie nächste Woche an dieser Stelle.

Die vorangegangenen Teile und weitere Berichte von anderen Reisenden aus der Region lesen Sie auf unserer Themenseite: Reiseberichte

Autor:

Chris Heinemann aus Region

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