Facharzt Dr. Tobias Merk mahnt, das Coronavirus ernst zu nehmen
"Man sollte aus der Geschichte lernen"

Dr. Tobias Merk. Foto: rkh

Region (swiz) Vieles weiß die Wissenschaft noch immer nicht über das neuartige Coronavirus, das derzeit für massive Einschränkungen im öffentlichen Leben und für wirtschaftliche Schwierigkeiten auf der ganzen Welt sorgt. Dieses Fehlen von Wissen sorgt vor allem in den sozialen Netzwerken für viele Spekulationen. Die Brettener Woche hat den Sektionsleiter Pneumologie (Lungenheilkunde) im RKH Klinikum Ludwigsburg, Dr. Tobias Merk, in einigen drängenden Fragen rund um das Coronavirus um Antwort gebeten.

Zu Beginn der Epidemie hieß es, dass das neuartige Coronavirus, sobald es wärmer wird, nicht mehr so aktiv sein werde. Trifft diese Einschätzung noch zu?
Es wird allgemein angenommen, dass die Aktivität bei warmer Witterung nachlässt. Dieser Effekt wird aber wahrscheinlich nicht so bedeutsam sein wie zum Beispiel bei der Influenza (Grippe), die es ja im Sommerhalbjahr praktisch nicht gibt.

Einige Menschen machen sich Sorgen, dass die momentanen Lockerungen schlimme Folgen für die Ausbreitung des Virus haben könnten. Wie ist Ihre Ansicht, waren die Lockerungen aus gesundheitlicher Sicht zu früh oder war der Zeitpunkt richtig gewählt?
Ohne Lockerungen werden die sogenannten 'Kollateralschäden' (wirtschaftlich, sozial, gesundheitlich) irgendwann untragbar hoch. Durch Maßnahmen wie Mundschutzpflicht, Abstand halten, Verzicht auf Großveranstaltungen und schrittweisen 'Exit', zum Beispiel, dass Schulen und Kitas nicht für alle gleichzeitig öffnen, behalten wir eine gewisse Kontrolle. Dennoch müssen wir mit einem nochmaligen Anstieg der Infektionszahlen rechnen. Diese 'zweite Welle' wird wahrscheinlich aber in einem beherrschbaren Rahmen bleiben. Vorausgesetzt, die Menschen bleiben vernünftig und diszipliniert.

Wie kann man die Menschen von der Gefährlichkeit des Virus überzeugen, wenn die Zahlen, vor allem der Toten, doch im Promillebereich im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung stehen? Auch die Zahl der freigehaltenen Intensivbetten, die aber gar nicht für Covid-19-Patienten gebraucht werden, lassen Zweifel aufkommen.
Eine unkontrolliert ablaufende Pandemie mit einem potenziell tödlichen Virus hat die Welt schon einmal erlebt: die Spanische Grippe vor gut hundert Jahren. Die Pandemie forderte weitaus mehr Tote als der gesamte Erste Weltkrieg. Das neue Coronavirus hat im Prinzip dasselbe Potenzial, aber wir wissen heute, wie wir solche Verläufe verhindern können. Man sollte aus der Geschichte lernen.

Das Durchschnittsalter der Corona-Toten liegt laut RKI in Deutschland ungefähr bei 80 Jahren. Viele der Verstorbenen hätten daher auch ohne Corona-Erkrankung wohl nur noch eine überschaubare Lebenserwartung gehabt, sagen viele Kritiker. Dazu kommen noch etwaige gefährliche Vorerkrankungen. Ein Kritiker formulierte es jüngst ungefähr so: „Wenn jemand von einem Hochhaus auf eine Straße stürzt und bei ihm eine Corona-Infizierung festgestellt wird, dann zählt er als „Corona-Toter.“ Daher die Frage, wann wird ein Mensch im Landkreis Karlsruhe offiziell als „am Coronavirus verstorben“ gezählt?
Entscheidend ist, welche Todesursache im Totenschein steht. Der Totenschein wird vom behandelnden Arzt ausgefüllt. Dieser würde also einen Sturz vom Hochhaus sicher nicht dem Coronavirus anlasten. Wir wissen übrigens genau, wie viele Menschen durchschnittlich in einem Landkreis jeden April versterben. Übersterblichkeiten durch Zusatzfaktoren wie Corona lassen sich statistisch in der Regel leicht zeigen. Auch alte und vorerkrankte Menschen leben oft gerne noch eine Weile weiter, wenn es möglich ist. Denkweisen wie die oben beschriebene, entsprechen aus meiner Sicht einer perfiden Eugenik, die in einer solidarischen Gesellschaft keinen Platz haben sollte.

Seit Montag gilt die Maskenpflicht in Baden-Württemberg beim Einkaufen und im ÖPNV. Laut Ministerpräsident Winfried Kretschmann reicht statt einer Maske „notfalls auch ein Schal“. Wie sehen Sie das? Welche Masken-Art sollten die Menschen nutzen, um einen effektiven Schutz für sich und andere zu gewährleisten?
Eine Maske, ein Tuch über Mund und Nase oder notfalls eben auch ein Schal verhindern alle, dass beim Husten, Niesen und Atmen virushaltige Tröpfchen in die Luft abgegeben werden. Masken sind aber wahrscheinlich die bequemste Lösung.

Ist mit dem Schutz durch eine Maske auch der geforderte Mindestabstand obsolet?
Nein, denn eine 100-prozentige Sicherheit bieten auch Masken nicht. Die virushaltigen Tröpfchen werden selten weiter als 1,5 bis zwei Meter verteilt und fallen dann zu Boden. Daher ist Abstand ein wichtiger zusätzlicher Faktor, falls trotz einer Maske noch Partikel in die Luft geraten.

Wie schätzen Sie die Dunkelziffer in Bezug auf die Corona-Infektionen und Todesfälle im Landkreis Karlsruhe ein?
Die Dunkelziffer trägt ihren Namen zu Recht. Das heißt, diese Frage lässt sich kaum seriös beantworten. Die Bundesregierung hat eine deutliche Ausweitung der Abstrich-Tests beschlossen. Dies auch mit dem Ziel, mittelfristig mehr Informationen zu Erkrankungszahlen zu bekommen. Ein breit verfügbarer Antikörper-Test aus dem Blut könnte hierüber auch Aufschluss geben. Leider ist ein solcher Test noch nicht verfügbar.

Wird das Coronavirus irgendwann verschwinden oder müssen Menschen künftig damit, wie mit der Grippe, „leben“?
Wir werden vermutlich damit leben und umgehen müssen, solange es keine wirksame Impfung und keine wirksamen, breit verfügbaren Medikamente gibt.

Ist es dann nicht, wie von manchen gefordert, besser die Methode der „Herdenimmunität“ zu verfolgen?
Im Prinzip ist der Gedanke nicht verkehrt. Doch in der Praxis müsste sich der größte Teil der Bevölkerung infizieren. Wenn dies innerhalb einer kurzen Zeitspanne geschieht, wird unser Gesundheitssystem völlig überlastet und viele Todesopfer wären die Folge. Im schlimmsten Fall müsste auch mit einem Zusammenbruch des öffentlichen Lebens gerechnet werden.

Warum dauert es so lange, bis ein Impfstoff verfügbar ist?
Dafür gibt es viele Gründe. Ein wichtiger Grund ist die Fähigkeit von Viren, ihre Oberflächeneigenschaften zu ändern und damit der frühen Entdeckung durch das Immunsystem (das Prinzip einer Impfung) zu entgehen. Ein wirksamer Impfstoff muss dieses Problem also erfassen und gleichzeitig auch verträglich sein. Dies erfordert sorgfältige Überprüfungen der entwickelten Substanzen, sonst würde der Impfstoff mehr schaden als nützen.

Mehr finden Sie auf unserer Themenseite Coronavirus.

Autor:

Christian Schweizer aus Bretten

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