Zehnter Verhandlungstag im Oberderdinger Mordprozess: Belastungszeuge demontiert sich selbst

Landgericht Karlsruhe: Seit der vom Gericht festgestellten versuchten Zeugeneinschüchterung werden die Besucher des Oberderdinger Mordprozesses streng kontrolliert. Foto: ch
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Im Karlsruher Indizienprozess um Brandstiftung und Mord an einer 82-jährigen Pflegeheimbewohnerin in Oberderdingen musste das Gericht am zehnten Verhandlungstag einen Rückschlag hinnehmen.

KARLSRUHE/OBERDERDINGEN (ch) Im Karlsruher Indizienprozess um Brandstiftung und Mord an einer 82-jährigen Pflegeheimbewohnerin in Oberderdingen musste das Gericht am zehnten Verhandlungstag einen Rückschlag hinnehmen. Ein 19-jähriger Zeuge, der den Angeklagten an einem früheren Verhandlungstag belastet hatte, konnte bei seinem heutigen zweiten Auftritt nicht mehr überzeugen.

Mit Angeklagtem in der Ausbildung

Zunächst befragte das Richtergremium jedoch eine andere Zeugin. Die 37-jährige Krankenschwester war nach eigenen Angaben seit November 2017 als Mentorin, zu Deutsch Praxisanleiterin, in dem Oberderdinger Pflegeheim sowohl für den erwähnten 19-Jährigen als auch für den heute 24-jährigen Angeklagten zuständig. Beide jungen Leute absolvierten damals in dem Heim eine altenpflegerische Ausbildung und standen von daher beruflich miteinander in Kontakt. Der 19-Jährige hatte seine Ausbildung im Januar 2018 wegen schlechter Noten in der Schule unterbrochen und war bis zur Wiederaufnahme seiner Ausbildung im September vorübergehend als ungelernter Pflegehelfer zu 80 Prozent weiterbeschäftigt worden. Im Gegensatz zur fachlichen Theorie sei er in der praktischen Arbeit „eigentlich gut“ gewesen, so die Mentorin.

Litt Angeklagter unter Selbstüberschätzung?

Ebenso schlecht in der Schule, was das altenpflegerische Fachwissen betraf, sei der Angeklagte gewesen, gab die Mentorin zu Protokoll. Nur habe er sich von seinem Kollegen darin unterschieden, dass er „von sich selbst sehr überzeugt“ gewesen sei. Er habe geglaubt, dass er den pflegerischen Ablauf beherrsche, so die Zeugin und fügte hinzu: „Konnte er aber nicht.“ Dennoch habe er „nicht mit sich reden lassen“. Die Mentorin bestätigte, dass der Angeklagte in einem Fragebogen die Selbsteinschätzung geäußert habe: „Notfallsituationen kann ich gut händeln.“

Zeuge wegen Dienstahls verhaftet

Dann kam der Vorsitzende Richter Leonhard Schmidt nochmals auf den 19-jährigen Kollegen des Angeklagten zu sprechen. Wie der denn hinsichtlich seiner Wahrhaftigkeit einzuschätzen sei, wollte er von der Mentorin wissen. Sie habe nie das Gefühl gehabt, dass er sie anlüge, erwiderte die Gefragte. Was sie sonst noch über ihn wisse, hakte der Richter nach. Die Mentorin zögerte: Sie wisse nicht, ob sie das sagen dürfe. Nur zu, ermunterte sie der Richter. Der junge Mann sei am Vortag verhaftet worden, platzte die Mentorin heraus. Der Richter schien fassungslos. Verhaftet? Ja, der Pflegeschüler sei von der Polizei abgeführt und sofort entlassen worden – „wegen Klauens“, klärte die Zeugin auf. Aber er habe den jungen Mann doch für heute nochmals vorgeladen, stöhnte der Vorsitzende.

Widersprüchliche Aussagen

Wie sich kurz darauf - nach der ersten von insgesamt vier angeordneten Verhandlungsunterbrechungen - herausstellte, ist der 19-Jährige inzwischen wieder auf freiem Fuß und war der erneuten richterlichen Vorladung gefolgt. Warum er sich erst im Lauf des Prozesses entschlossen habe, Aussagen zu machen, wollte der Vorsitzende wissen. Weil ihn eine Arbeitskollegin dazu aufgefordert habe, so der Zeuge. Das habe die Arbeitskollegin vor Gericht aber bestritten, hielt der Richter ihm vor. „Aber es stimmt“, behauptete der 19-Jährige. Im gleichen Brustton der Überzeugung beantwortete er eine weitere Frage, schwenkte dann aber auf die ihm vom Richter vorgehaltene gegenteilige Version um.

Richter platzt der Kragen

Die Richter hielten ihm auch vor, dass seine Aussage, er sei noch auf der Berufsschule gewesen, als er – kurz vor dem Brand im Pflegeheim Ende Mai 2018 – die belastenden Aussagen vom Angeklagten gehört habe, im Widerspruch zu den Angaben seiner Mentorin stehe. Denn mit dem Abbruch der Ausbildung sei auch die Schulpflicht beendet. Doch der 19-Jährige beharrte darauf, er habe weiter freiwillig in der Schule geübt, um seine Leistungen zu verbessern. Als der junge Mann dann aber in der weiteren Befragung angab, er habe eine ihm von der Mentorin aufgetragene Biografiearbeit über einen Heimbewohner verfasst, platzte dem Richter der Kragen: Er zitierte aus der ihm vorliegenden Arbeit, woraus hervorging, dass es sich lediglich um eine unpersönliche Anleitung handelt, nicht aber um die Biografie eines realen Menschen. „Warum erzählen Sie mir das nicht? Wir machen doch hier keine Spaßveranstaltung!“ polterte der Vorsitzende. Auch die neue Version des 19-Jährigen, ein von ihm erwähntes Zusammentreffen mit dem Angeklagten habe vor seinem Frühdienst stattgefunden, erregte den richterlichen Unmut. Letztes Mal habe er gesagt, es sei an einem seiner freien Tage gewesen. „Sie sagen an einem Tag A und an einem anderen Tag B. Denken Sie überhaupt mal nach, was Sie sagen?“ hielt der Vorsitzende ihm vor und entließ den Zeugen.

Desinfektionsmittel frei zugänglich

Als dritter und letzter Zeuge an diesem Verhandlungstag erschien nochmals ein Bruchsaler Kriminalkommissar, den das Gericht um ergänzende Ermittlungen zu den im Pflegeheim zum Brandzeitpunkt im Mai 2018 gebräuchlichen Desinfektionsmitteln gebeten hatte. Das Mittel mit der Bezeichnung Aseptoman musste nach Anordnung der damaligen Pflegedienstleitung von allen Mitarbeitern in kleinen Handfläschchen in der Dienstbekleidung mitgeführt werden. Es war aber, wie der Kripobeamte ausführte, auch in größeren Flaschen im frei zugänglichen Versorgungsraum sowie an den Pflegewagen, in den Waschräumen und sogar im Gemeinschaftsraum „Treff“ verfügbar. Auch im Spind des Angeklagten war bei der Durchsuchung nach dem Brand ein Fläschchen gefunden worden.

Antrag der Verteidigung abgelehnt

Nach einer weiteren Pause, in der sich das Gericht mit Staatsanwalt und Verteidiger über das weitere Vorgehen beriet, unternahm die Verteidigung einen neuen Vorstoß. Ihr Antrag, einen Experten vom Wehrwissenschaftlichen Institut für Werk- und Betriebsstoffe der Bundeswehr als Sachverständigen zu laden, damit dieser beweisen könne, dass es keine individualisierbaren Muster auf Tarnhosen der Bundeswehr gebe, wurde vom Gericht – wiederum nach einer Beratungspause – abgelehnt. Begründung: Der beabsichtigte Beweis sei durch die zwei vorgelegten Hosen bereits erbracht. Bis zum nächsten Verhandlungstag am kommenden Montag soll die Verteidigung entscheiden, ob sie zustimmt, dass drei weitere Gutachten nur verlesen werden oder ob die Sachverständigen für eine Befragung vorgeladen werden sollen. Davon dürfte abhängen, ob die restlichen zwei Verhandlungstage für einen Abschluss des Verfahrens ausreichen oder ob es erneut in die Verlängerung geht.
kraichgau.news setzt seine Berichterstattung fort.

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Autor:

Chris Heinemann aus Bretten

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