Polen – Entdeckungsreise auf den Spuren der europäischen Geschichte, Teil 9: Oświęcim / Auschwitz 2
Das unvorstellbare Grauen
Mittwoch, 25. Juli: Jugendliche Fröhlichkeit auf „Europas größtem Friedhof“
In einem jüngeren Dokumentarfilm werden die erhaltenen Reste des KZ Ausschwitz als „Europas größter Friedhof“ bezeichnet. Weiter heißt es: Trotzdem wirke die Gedenkstätte manchmal „wie ein makabrer Ausflugsort“. Diese Erfahrung mussten auch wir machen. Einmal wies Adrian einige Jugendliche zurecht, weil sie vor einem Häuserblock ihrem fröhlichen Temperament freien Lauf ließen und offensichtlich zu wenig Sinn für die Pietät des Ortes erkennen ließen. Dazu kann man sagen, dass die Gedenkstätte unabhängig von jugendlicher Unbekümmertheit vielleicht auch ein Problem damit hat, wie sie junge Menschen, die an die unmittelbare Emotionalität moderner Medien gewöhnt sind, heutzutage mit einer fast steril wirkenden, sachlich-konventionellen Darstellungsweise gefühlsmäßig erreichen kann. Da sollte dringend nachgebessert werden. Denn in einigen Jahren wird es auch die wenigen übrig gebliebenen, hochbetagten Zeitzeugen nicht mehr geben, die bis jetzt noch das unvorstellbare Grauen des KZ-Alltags für die Nachgeborenen durch anschauliche Erlebnisschilderungen vorstellbar und vor allem nachfühlbar machen konnten.
Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau – Von der Rampe direkt in die Gaskammer
Wer durch die Ausstellung in den ehemaligen Häftlingsblocks im Stammlager Ausschwitz I wandert, könnte den Eindruck gewinnen, dies sei bereits die Hölle auf Erden gewesen. Doch aus heutiger Sicht gab es einen noch schlimmeren Ort. Wenn es eine Steigerungsform der Hölle gibt, dann liegt sie etwa drei Kilometer entfernt im viel größeren Vernichtungslager Ausschwitz-Birkenau, auch KZ Ausschwitz II genannt. Ein im Ticketpreis inbegriffener Pendelbus brachte uns in wenigen Minuten an das aus vielen Doku-Filmen bekannte Eingangstor. Durch das Tor führen die Bahngleise direkt zur sogenannten Rampe, an der die Deportationszüge endeten. Man muss sich an die zuvor gesehenen Bildtafeln erinnern, um zu begreifen, wie die dort zwischen 1942 und 1944 massenhaft ankommenden jüdischen Menschen in zwei Gruppen aufgeteilt wurden. Die als arbeitsunfähig eingestufte Mehrheit wurde sofort in die Gaskammern getrieben und ermordet. Rund 900.000 Menschen sind nach Angaben von Geschichtsforschern so ums Leben gekommen. Der Rest wurde zur Sklavenarbeit im nur sechs Kilometer entfernten Arbeitslager Monowitz, dem KZ Ausschwitz III, oder einem der rund 50 Außenlager des KZ Ausschwitz gezwungen. Im KZ Monowitz hatte die deutsche Firma I.G. Farben AG eine Zweigstelle der Buna-Werke, Fabriken zur Herstellung synthetischen Kautschuks und Treibstoffs, errichtet. Nach Schätzung von Historikern wurden dort weitere bis zu 25.000 Menschen unter katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen buchstäblich zu Tode gequält.
Eine Mahnung von Pfarrer Niemöller
Auf dem riesigen, heute mit grünem Rasen überwachsenen Areal ist davon ohne Erläuterungen nur wenig zu spüren. Zu sehen sind noch einige hölzerne Wachtürme, die Stacheldrahtverhaue, ein einzelner symbolischer Viehwaggon und die Ruinen der Krematorien. Sie wurden kurz vor der Befreiung des KZ durch die Rote Armee von den abrückenden SS-Wachmannschaften selbst gesprengt, ebenso die Mehrheit der zahlreichen ehemaligen Häftlingsbaracken, von denen nur noch die Fundamente und die Kamine stehen. Gerade hatte noch die Sonne vom Himmel gebrannt. Doch plötzlich, als wir mitten auf dem Gelände am „Mahnmal für die Opfer des Faschismus“ standen, wurden wir von einem Wolkenbruch überrascht. Jetzt war uns klar, weshalb Adrian seit über zwei Stunden umständlich seinen Regenschirm mitführte. Zum Schluss der Führung zitierte der Museumsführer noch einen Satz des ehemaligen deutschen KZ-Häftlings und evangelischen Pfarrers Martin Niemöller:
„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“
Und er fügte hinzu: „Nur wenn wir verstehen, was und wer Ausschwitz möglich gemacht hat, können wir vielleicht eine Wiederholung verhindern.“
Die Bilder des unbekannten Lagerfotografen
Gefühlsmäßig fassbarer wurde für mich das in Ausschwitz Gesehene erst im Nachhinein. Und zwar durch Betrachten eines beim Abschied im Museumsshop erworbenen Fotoalbums. In dem Buch „Auschwitz-Birkenau – Der Ort, auf dem du stehst …“ werden Aufnahmen eines unbekannten Lagerfotografen von den Vorgängen bei der Ankunft der todgeweihten Menschenmassen mit Fotos des polnischen Fotografen Paweł Sawicki vom heutigen Aussehen derselben Orte konfrontiert. Man sieht nicht nur anonyme Massen, sondern reale Gesichter von gesunden Menschen, Kindern, Müttern, Großmüttern und Großvätern sowie gut aussehenden Frauen und Männern im besten Alter. Einfache, bäuerlich wirkende Menschen, aber auch gebildete Erscheinungen. Man sieht, wie sie in großen Gruppen ahnungslos zu den Gaskammern mit dahinter aufragenden Krematorien getrieben werden. Man sieht, wie junge Frauen mit erniedrigend kahl geschorenen Köpfen und in Häftlingskleidung zu den Arbeitslagern abgeführt werden. Bilder, die traurig machen. Und ja, auch beschämt, dass all das Deutsche anderen Menschen angetan haben. Die Fotos in dem Buch sind erschütternde Beweise, dass all die unvorstellbaren Gräueltaten genau an den heute so leer wirkenden Orten tatsächlich stattgefunden haben.
Chris Heinemann
Alle Fotos: ch
Den zehnten Teil des Reiseberichts Polen unter dem Titel „Wrocław/Breslau 1: Subversive Zwerge und polnische Europäer“ lesen Sie nächste Woche an dieser Stelle.
Die vorangegangenen Teile und weitere Berichte von anderen Reisenden aus der Region lesen Sie auf unserer Themenseite: Reiseberichte
Autor:Chris Heinemann aus Region |
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