Interview mit Professor Jörg Martin
"Die Politik handelt nicht vorausschauend"

Professor Dr. Jörg Martin, Geschäftsführer der RKH Kliniken.  | Foto: RKH Kliniken
  • Professor Dr. Jörg Martin, Geschäftsführer der RKH Kliniken.
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Region (ger) Professor Dr. Jörg Martin, von Haus aus Anästhesist, ist seit 2013 Geschäftsführer der Regionalen Kliniken Holding RKH, einem Verbund von acht Krankenhäusern in Baden-Württemberg mit 8.000 Mitarbeitern und über 300.000 ambulanten und stationären Patienten im Jahr. Dazu gehören auch die Kliniken in Bretten, Bruchsal und Mühlacker. Die Brettener Woche/kraichgau.news sprach mit ihm über die Corona-Pandemie, die Situation in den Kliniken und das Gesundheitssystem.

Seit Sonntag gelten viele Corona-Regeln nicht mehr, während die Inzidenzen weiter Rekordwerte erreichen. Können Sie diese Entscheidung der Politik nachvollziehen?
Ganz kann ich das nicht nachvollziehen, gerade wo die Zahlen derzeit am höchsten sind. Aber ich gebe dem baden-württembergischen Gesundheitsminister Lucha recht: Wenn das so beschlossen wird, wäre es ehrlicher, es als Wechsel von der Pandemie zur Endemie zu bezeichnen. Ab 1. Mai soll ja auch keine Quarantänepflicht mehr bestehen außer für Mitarbeiter im Gesundheitswesen. Allerdings sterben immer noch viele Menschen an Covid-19. Politik heißt ja eigentlich, in die Zukunft denken. Die Pandemie wird im Herbst wieder kommen. In meinen Augen handelt die Politik nicht vorausschauend.

Historiker sagen, dass Pandemien vor allem auf zwei Arten enden: Entweder medizinisch, wenn ein Großteil die Infektion überstanden hat beziehungsweise sobald es wirksame Medikamente und Impfstoffe gibt. Oder die Pandemie findet ein soziales Ende: Damit ist eine bewusste Entscheidung gemeint, die in den Köpfen der Menschen eintritt, wenn sie die Einschränkungen nicht mehr hinnehmen wollen und die Angst vor der Krankheit abnimmt. Was trifft gerade zu?
Ich würde sagen beides. Dass die Menschen vom Kopf her nach zwei Jahren genug von Corona haben, ist nachvollziehbar. Auch dass man Öffnungsschritte geht, verstehe ich. Wir in den Kliniken hätten uns aber gewünscht, dass man sie noch um einen Monat verschoben hätte. Wir erwarten noch einen Peak an Ostern. Im Sommer werden wir wahrscheinlich einigermaßen Ruhe haben.

Die Situation in den Kliniken ist seit gut zwei Jahren, seit Pandemiebeginn also, stark angespannt. Was waren die Auswirkungen auf die Arbeit in den Kliniken bisher?
Da muss man unterscheiden zwischen den einzelnen Phasen der Pandemie. Im Januar 2020 hat man von Covid in Wuhan in China gehört, das schien weit weg. Dann kam es aber doch hierher und hat uns förmlich überrollt. Wir kannten die Krankheit nicht, konnten nur die Symptome behandeln. Es fehlte sogar an Schutzkleidung. Damals hat die Politik beherzt gehandelt, das muss man schon sagen. Sie wurde dann aber träger, es kam auch noch der Wahlkampf dazu zwischen der dritten und der vierten Welle. Das ist echt blöd, dass sich das Virus nicht an politische Umstände hält! Die hohe Deltawelle haben wir auch dem Macht- und Beschlussvakuum dieser Zeit zu verdanken.
Unsere Mitarbeiter haben einen tollen Job gemacht und machen ihn immer noch, aber sie sind müde, ausgelaugt und leer. Auch wenn es mittlerweile auf den Intensivstationen ruhig geworden ist, auf den Normalstationen haben wir eine hohe Belastung und dazu noch hohe Mitarbeiterausfälle. Mehr Infizierte auf den Normalstationen treffen auf weniger Mitarbeiter, das ist natürlich sehr ungünstig. In der Konsequenz haben auch Mitarbeiter den Kliniken den Rücken gekehrt. Das tut uns und dem Gesundheitssystem insgesamt weh, denn es herrschte schon vor der Pandemie Mangel, vor allem auch auf den Intensivstationen.

Was könnte man tun, um mehr Menschen für einen Beruf in der Pflege zu begeistern?
Zuerst einmal muss man sagen, dass die Pflege ein ganz toller, vielseitiger und bereichernder Beruf ist. Ich habe lange eine Intensivstation geleitet, und das Arbeiten im Team mit Medizinern und Pflegekräften auf Augenhöhe ist etwas ganz Besonderes.
Die Bezahlung müsste besser werden, mit Prämien, wie es sie jetzt immer wieder gab, ist es allein nicht getan. Wir brauchen auch dringend einen gesellschaftlichen Konsens darüber, dass soziale Berufe – und damit meine ich nicht nur Pflegekräfte im Krankenhaus, sondern auch Erzieher oder Altenpfleger – eine ganz wichtige Rolle in der Gesellschaft spielen. Geld ist nicht alles.
Auch die Selbstbestimmtheit in dem Beruf sollte mehr betont werden. Die Pflege kann akademisiert werden, ohne vom Bett weg zu gehen. Wir haben immer mehr komplexe Fälle zu betreuen. Durch die demographische Entwicklung – die Babyboomer gehen in Rente – werden wir immer weniger Kräfte haben, zugleich steigt der Bedarf an Pflege. Die Zusammenarbeit in gemischten Teams aus akademischen und ausgebildeten Kräften sowie Hilfskräften und Ungelernten wird immer wichtiger.
In den RKH Kliniken haben wir in diesem Zusammenhang eine Kooperation mit der Paracelsus Medizinische Privatuniversität Salzburg, der einzigen Hochschule im deutschsprachigen Raum, die international anerkannte akademische Abschlüsse für die Pflege anbietet. Generell müsste man Karrieremöglichkeiten für die Pflege forcieren.
Bei der Digitalisierung ist an den Kliniken ebenfalls noch Luft nach oben, da müssten wir eigentlich voranschreiten.

Stichwort einrichtungsbezogene Impfpflicht: Fünf Prozent Ihrer Mitarbeiter sind nicht immunisiert und wurden von Ihnen ans Gesundheitsamt gemeldet. Gab es inzwischen schon irgendwelche Vorgaben, was mit denen passiert?
Nein, noch nicht. Aber passend zum Thema Digitalisierung: Wir sollten die nicht immunisierten Mitarbeiter über das Steuerportal Elster an das Gesundheitsamt melden. Die Passwörter, die wir für jede Gesellschaft beantragen mussten, bekamen wir aber nicht rechtzeitig, sodass wir den digitalen Zugang nicht nutzen konnten und auf jede Meldung eine Briefmarke kleben mussten. Die Meldungen liegen jetzt bei den Gesundheitsämtern, sie werden jeden Mitarbeiter anschreiben. Wer darauf nicht reagiert, muss ein Bußgeld von 250 Euro zahlen. Bevor die Ämter aber Betretungsverbote erlassen, werden sie erst noch das Gespräch auch mit uns suchen.

Die allgemeine Impfpflicht scheint im Bundestag keine Mehrheit zu finden. Wie bewerten Sie das?
Wenn eine endemische Lage erreicht werden soll, ist eine hohe Impfrate enorm wichtig. Das ist wirklich ein Trauerspiel. Das Impfregister, das vorgesehen ist, soll nicht über die Krankenkassen gehen, die ja wegen Papiermangels, wie sie angeben, dabei nicht mithelfen können. Wir hoffen zumindest auf die Impfpflicht ab 50. Denn im Herbst kommt ganz bestimmt die nächste Welle, von der wir nicht wissen, ob sie durch eine krankmachendere Variante ausgelöst wird. Nach derzeitigem Stand bin ich aber nicht so richtig optimistisch, dass der Bundestag die Impfpflicht beschließt.

Wie Sie gerade sagten: Die Krankenkassen führen an, sie können bei der Durchsetzung einer Impfpflicht nicht mithelfen, weil ihnen wegen der wirtschaftlichen Situation derzeit das Papier für Briefe fehle. Auch hätten sie nicht die aktuellen Adressen ihrer Versicherten. Sind wir in Deutschland wirklich so schlecht organisiert?
Wir leben ja eigentlich in einem hochtechnisierten Land. Aber schon wenn ich mit dem Auto von Ludwigsburg nach Bruchsal fahre und dabei telefoniere, falle ich in mindestens drei Funklöcher. An der elektronischen Gesundheitskarte, die für uns ein Segen wäre, sind wird schon seit mindestens 14 Jahren dran und haben Milliarden Euro reingesteckt, sind aber nicht weiter. Die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und das elektronische Rezept hat Gesundheitsminister Lauterbach jetzt auf 2023 verschoben.

Was wünschen Sie sich konkret von der Politik?

Ich dachte eigentlich, dass man nach Corona innehält und über die Finanzierung und Organisation des Gesundheitswesens neu nachdenkt. Es ist überreglementiert und leidet unter einer ungeheuren Bürokratie. Sektorengrenzen abzubauen ist zum Beispiel sehr schwer.
Ich setze mehr auf Prävention, in Bretten soll ja ein Präventionszentrum entstehen. Da sagen manche Kollegen: Warum Prävention, das ist doch geschäftsschädigend. Man verdient ja nur an den Kranken. Es wäre gut, das System neu zu denken, etwa mit Regionalbudgets, einer pauschalen Vergütung pro versicherter Person: Die Leistungserbringer bekommen daraus eine Summe X. Wir haben dann ein Interesse daran, dass der Mensch gesund bleibt, und falls er krank wird, geht ambulant vor stationär. Sollte er so krank werden, dass er stationär behandelt werden muss, müssen unsere Leistungen so gut sein, dass er in unsere Kliniken kommt. Ein solches System funktioniert nur im Verbund mit niedergelassenen Ärzten. In Spanien wird das so schon erprobt. Dabei bin ich für einen reglementierten Wettbewerb, der aber ein Qualitätswettbewerb sein muss. Das sind dicke Bretter, die man da bohren muss.
Die Fachleute sind sich aber einig, dass es so nicht bleiben kann. Die Budgetverhandlungen mit den Krankenkassen für das Jahr 2020 sind jetzt noch nicht abgeschlossen. Es liegt ein ein gut gemeintes, aber handwerklich schlecht gemachtes Gesetz zugrunde. Wir streiten uns seit über einem Jahr darüber, was Pflege am Bett ist. Das ist unsäglich.
Ich hoffe, dass Minister Lauterbach nach Corona alles top auf den Weg bringt. Aber wir wollen nicht nur kritisieren, sondern das System konstruktiv und kreativ voranbringen. Was sich bewährt hat, ist zum Beispiel auch die Transparenz und offene Kommunikation der RKH Kliniken während der Pandemie, zum Beispiel durch die regelmäßigen Pressekonferenzen.

Die Fragen stellte Redakteurin Katrin Gerweck.

Autor:

Katrin Gerweck aus Bretten

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