Polen – Entdeckungsreise auf den Spuren der europäischen Geschichte, Teil 12: Wrocław / Breslau 3
Jüdisches Leben und junge Kunst
Donnerstag, 26. Juli: Das „Viertel der vier Tempel“
Nach dem Mittagessen schlenderten wir hinüber ins benachbarte „Stadtviertel der gegenseitigen Achtung - Dzielnica Czterech Wyznań“, auch „Viertel der vier Tempel“ genannt. Dort liegen ein protestantisches, ein russisch-orthodoxes, ein katholisches und ein jüdisches Gotteshaus jeweils kaum 300 Meter voneinander entfernt. Seit 1996 arbeiten die Geistlichen der vier Gotteshäuser in einem gemeinsamen Rat zusammen, um die Verständigung zwischen den Religionen zu fördern. 2005 wurden die Gotteshäuser durch einen „Kulturpfad“ verbunden. Das gesamte Stadtviertel steht unter Denkmalschutz. Wenn man wie wir aus der Richtung des Rynek kommt, begrüßt einen am Eingang zum Viertel an der Ecke Kasimir-der-Große-Straße/St.-Antonius-Straße (uliza Kazimierza Wielkiego/uliza św. Antoniego) die Skulptur einer jungen Tänzerin. Ihr Kleid schmücken Umrisse der Kontinente. Die „Kristallplanet“ genannte, 2012 eingeweihte Bronzefigur der ortsansässigen Künstlerin Ewa Rossano symbolisiert die Einheit der Welt, trotz religiöser und kultureller Unterschiede. Ganz im Sinne von religiöser und gesellschaftlicher Vielfalt, Toleranz, Begegnung und Verständigung laden die rund um die Skulptur gruppierten steinernen Sitzbänke dazu ein, auszuruhen, einander näher und miteinander ins Gespräch zu kommen.
Dazu tragen übers Jahr verstreut auch Kultur- und Bildungsveranstaltungen bei, darunter Konzerte, Ausstellungen und Filmfestivals. Das Publikum trifft sich in den zahlreichen im Viertel anzutreffenden Restaurants, Cafés, Kneipen und Musikclubs.
Die Synagoge zum Weißen Storch
Eher zufällig entdeckten wir bei unserem Bummel durch Seitenstraßen ein Schild, das auf die hinter einer Häuserfront mit spitz vorkragendem Türmchen verborgene Synagoge „zum Weißen Storch“ (polnisch: Synagoga pod Białym Bocianem) hinwies. Der ungewöhnliche Name leitet sich angeblich von einem Gasthaus zum Weißen Storch ab, das früher auf dem Grundstück stand. Ebenso ungewöhnlich wie der Name ist die Geschichte dieses 1829 eröffneten jüdischen Gotteshauses. Anders als die erst 1872 errichtete, viel größere und repräsentativere Große Synagoge wurde die Synagoge zum Weißen Storch nicht in der „Reichspogromnacht“ 1938 niedergebrannt. Ihre Rettung war, dass sie so dicht zwischen andere Häuser gebaut ist, dass die Nazis fürchteten, ein Feuer könnte auf die anderen Gebäude übergreifen. Dennoch wurde sie verwüstet, ihr Innenhof wurde als Sammelplatz für die in Todeslager abtransportierten jüdischen Einwohner Breslaus missbraucht und in ihren Räumen das den Ermordeten gestohlene Eigentum gelagert. Auch die polnischen Kommunisten verhinderten eine Wiedereröffnung, die erst im Jahr 2010, nachdem zuvor 14 Jahre lang restauriert worden war, stattfinden konnte. Heute werden in der Synagoge neben religiösen Feiern auch Konzerte, Theatervorführungen und kulturelle Treffen veranstaltet.
Wiederbegegnung mit bekannten Namen
Neugierig durchschritten wir einen Torbogen und standen in einem von großen Bäumen teilweise beschatteten Innenhof mit Außensitzplätzen eines Restaurants. Uns zog es weiter quer über den Hof zum Eingang der Synagoge und eine Treppe hinauf. Da standen wir dann plötzlich im ersten Obergeschoss und blickten hinab auf den von Galerien gesäumten, zum Konzertsaal umgestalteten Gebetssaal. Auf der unteren Galerie zog uns eine Dauerausstellung zum Thema „800 Jahre jüdisches Leben (und Leiden) in Wrocław und Niederschlesien“ in ihren Bann. Überrascht entdeckten wir auf den Ausstellungstafeln unter anderem Bilder und Lebensbeschreibungen von bekannten Persönlichkeiten, die aus dem Umfeld der ehemals Breslauer jüdischen Gemeinde stammen: darunter die zum Katholizismus konvertierte Philosophin und spätere katholische Ordensschwester Edith Stein, die ungeachtet ihres christlichen Glaubens von den Nazis in der Gaskammer ermordet wurde. Ebenso der aufgrund einer Liebesaffäre 1864 im Duell getötete Sozialdemokrat Ferdinand Lassalle und der 1990 verstorbene, renommierte Zivilisationsforscher Norbert Elias, der, obwohl schon in hohem Alter, noch bis Mitte der 1980er Jahre an der Universität Bielefeld lehrte.
Denkmal für die geschlachteten Tiere
Unser Streifzug führte uns zurück zum Salzmarkt, an dem auch die Breslauer Geschäftsstelle der angesehenen polnischen Tageszeitung Gazeta Wiborcza angesiedelt ist, einmal die Russische Straße (uliza Ruska) mit ihren teils prächtigen Belle Epoque-Fassaden hinauf und hinunter, mehrmals über den von Kleinkünstlern und Straßenmusikern belebten Marktplatz (Rynek) sowie durch viele Seitengassen. Die bei Familien wohl beliebteste Gasse dürfte die Schlachthausgasse (uliza Jatki) sein, an deren Eingang eine tierische Figurengruppe Aufmerksamkeit erregt. Die von Piotr Wieczorek in den 1990er Jahren geschaffenen Bronzeskulpturen setzen den dort einst von Fleischereien vermarkteten Schlachttieren ein Denkmal, werden von Kindern geliebt und sind laut einem Reiseportal neben den allgegenwärtigen Zwergen die meistfotografierten Attraktionen der Stadt. In den ehemaligen Ställen der Gasse logieren heute edle Kunsthandwerker-Boutiquen und Souvenirläden. Natürlich kann man auch hier einen der Wrocławer Wichtel entdecken, nämlich den Metzger-Zwerg (Rzeźnik), der wie die größeren Tierfiguren an die ehemalige Funktion der Gasse erinnert.
Der Kupferstecher und „Hänsel und Gretel“
Wie erwähnt, haben wir mehrmals den Marktplatz passiert oder nur gestreift. Aber man entdeckt immer wieder Neues. Zum Beispiel „Hänsel und Gretel“ (Jaś i Małgosia), zwei durch einen Torbogen verbundene kleine Häuser in der nordwestlichen Ecke des Rynek. Sie gehörten ursprünglich zu einem Häuserensemble, das die dahinter aufragende Elisabethenkirche umgab. In den beiden übrig gebliebenen, sogenannten Altaristen-Häusern wohnten einst katholische Priester ohne seelsorgerische Aufgaben. Seinen liebevoll spöttischen Namen erhielt das Häuserpaar erst in der Nachkriegszeit, weil für manche Stadtbewohner der Torbogen so aussah, als hielten sich die beiden Häuschen hilfesuchend an den Händen. Im „Hänsel“, dem kleineren der beiden, lebte und arbeitete zuletzt der bekannteste Wrocławer Künstler Eugeniusz Get-Stankiewicz. Der 2011 verstorbene Grafiker und Bildhauer hat maßgeblich zum typisch polnischen Poster-Design beigetragen (siehe auch unter https://polishposter.com/ ). Landesweit berühmt wurde Get-Stankiewicz während der 1980er Jahre für seine mit Humor, Satire und Ironie getränkten Werke, die die Auswüchse des kommunistischen Regimes aufs Korn nahmen. Bezeichnend: An seinem Haus brachte der Kupferstecher neben dem lateinischen Spruch „extra iocum ioci causa – Scherz beiseite spaßeshalber“ auch eine Tafel mit der Aufschrift „Zwergenmuseum“ an. Neben dem Torbogen stand tatsächlich ein Bronzezwerg, der den Touristen ein mit dem Wrocławer Stadtwappen geschmücktes Herz entgegenstreckte. Und gleich daneben ein zweidimensionaler Fotorahmen in derselben Zwergenpose, hinter dessen ausgespartem Gesicht sich die „Turis“ zuhauf knipsen ließen.
Neon Side Galerie und Street Art
Langsam wurde es spät. Noch ein letzter Streifzug durch die schon ins Licht der Abendsonne getauchten Seitenstraßen – und plötzlich standen wir in einer mit durchsichtigen Regenschirmen überspannten Passage zwischen, wie es schien, alten Fabrikgebäuden. Erst dachten wir: Aha, ein Künstlerquartier! Zumal die Mauern vor Graffiti und allerlei Wandgemälden strotzten. Dann fiel uns hoch oben ein beleuchtbarer Schriftzug auf: „Galeria Neon Side“. Den Schriftzug nahmen wir zur Kenntnis, dabei blieb es an jenem Abend. Was dahinter steckte, wurde mir erst durch späteres Nachlesen klar: Die an den Hinterhoffassaden angebrachten Firmenschilder sind Teil einer Sammlung Dutzender alter Leuchtreklamen aus der Sowjetzeit, die der frühere Jurastudent Tomasz Kosmalski seit 2005 vor der Verschrottung bewahrt hat. Mit den Leuchtschriften wollte er, wie er in einem Interview sagte, einfach eine Erinnerung an seine Kindheit retten. Mittlerweile gelang es ihm, eine Stiftung Neon Side zu gründen, die in der Passage ihren Sitz hat. Ein passender Ort, denn ebendort residierte früher eine Firma, die Leuchtreklamen herstellte. Neben dem kostenlos zugänglichen Freilichtmuseum der Neonleuchtschriften existiert dort noch der angesagte Szeneclub „Surowiec“. Die farbenprächtige nächtliche Neon-Beleuchtung der Passage haben wir leider verpasst. Wer sich davon einen Eindruck verschaffen will, findet auf https://www.inyourpocket.com/wroclaw/neon-side-gallery_151293v eine Bildergalerie. Auch die Street Art haben wir in Wrocław leider nur en passant wahrgenommen, obwohl es davon eine Menge in der Stadt gibt, wie man einer weiteren Bildergalerie auf https://www.inyourpocket.com/wroclaw/Wherefore-Urban-Art-Thou_70979f entnehmen kann.
Beim Verlassen des Hinterhofs überraschte uns ein Regenschauer. Wir warteten unter einem Torbogen und sahen zu, wie die Tropfen aufs Straßenpflaster prasselten. Aus einem kaputten Regenrohr ergoss sich ein kleiner Bach. Die Stimmung war ein wenig wehmütig, wie sie es manchmal ist, wenn eine schöne Reise zu Ende geht. Kurz darauf schien wieder die Sonne. Im milden Abendlicht wanderten wir gemächlich entlang der Kasimir-der-Große-Straße zurück zum Hotel, den Kopf voller Bilder von sehenswerten Städten, einem beeindruckenden Land und Begegnungen mit liebenswürdigen Menschen.
Chris Heinemann
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Autor:Chris Heinemann aus Region |
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