Patienten der Kraichtal-Kliniken erhalten in der Pandemie digitalen Musikunterricht
Therapie durch Musik in Kraichtal
Kraichtal (swiz) "Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten", soll einmal der berühmte Komponist Gustav Mahler gesagt haben. Blickt man auf ein Projekt der Kraichtal-Kliniken mit den Abteilungen für Psychosomatik und Abhängigkeitserkrankungen, kann man dieser Aussage ohne zu zögern zustimmen. Denn an den Kliniken ist die Musiktherapie schon lange eine feste Institution. Einmal wöchentlich haben die suchtkranken und psychisch belasteten Männer und Frauen dort die Möglichkeit, sich gemeinsam mit ihrem Therapeuten Walter Seitz kreativ zu verwirklichen. Vor der Corona-Pandemie konnte dann das Gelernte bei Anlässen wie Grillfesten oder Kaffeenachmittagen in der Klinik präsentiert werden. Dabei singen und musizieren die Patienten mit den "Los Promillos", einem Bandprojekt mit ehemaligen Patienten, Freunden und Mitarbeitenden der Kliniken unter der Führung von Chefarzt Dr. Sven Seilkopf. „Diese Auftritte sind das Highlight für unsere Patientinnen und Patienten. Die Begeisterung ist riesig, wenn sich die Gelegenheit bietet, in Begleitung einer ‚richtigen Band‘ Musik zu machen“, berichtet Therapeut Seitz.
Corona stellte alles auf den Kopf
Corona hat das erfolgreiche Konzept der Musiktherapie inzwischen aber auf den Kopf gestellt. Zwar dürfen die Therapiesitzungen in kleinen Gruppen weiterhin stattfinden, jedoch fehlen die Auftritte und damit das Ziel, auf das alle zusammen hinarbeiten. Doch Verzagen gilt nicht und so wurde die Idee geboren, ergänzend zur Gruppentherapie jedem Patienten ein individuelles musikalisches Angebot zu unterbreiten. „Zwar konnten die Patientinnen und Patienten schon immer in der Gruppentherapie einzelne Instrumente ausprobieren. Über die ersten Schritte kam man aber nie hinaus. Für eine besondere Förderung des Einzelnen brauchte es ein neues Format“, erinnert sich Walter Seitz.
Instrument lernen digital
In Abstimmung mit der Klinikleitung startete er daher kurzerhand das Projekt "Musikinstrument lernen". Zur Wahl stehen neun Instrumente: Von Klavier über Mundharmonika bis Ukulele ist für jeden etwas dabei. Sobald ein Leihinstrument zur Verfügung steht, kann es losgehen. Dabei läuft der gesamte Unterricht bis auf eine kurze persönliche Einführung vollständig digital ab. Die Patienten erhalten dann eigens für sie produzierte Video-Lektionen direkt auf ihr Handy. Wer möchte, kann seine Fortschritte seinerseits auf Video festhalten und an seinen Musiktherapeuten zurückschicken. Dieser wiederum gibt dann ein individuelles Feedback und fährt mit der nächsten Lerneinheit fort. „Das Konzept ist ideal, gerade in Corona-Zeiten. Ich kann jeden Einzelnen erreichen und Freude und Begeisterung vermitteln – für mich das oberste Ziel der Musiktherapie“, sagt Seitz.
Wichtige Stufe auf dem Weg zur Heilung
Das Pilotprojekt war schon nach wenigen Wochen eine Erfolgsgeschichte. Bald jede vierte Patientin der Psychosomatischen Fachklinik und etliche Patienten des Therapiezen-trums lernen inzwischen ein Musikinstrument, Tendenz steigend. In der Fachklinik Haus Kraichtalblick trifft das Angebot ebenfalls auf großes Interesse. "Die Resonanz ist überwältigend. Sie zeigt das immense Bedürfnis nach Aufmunterung und positiver Energie in diesen schwierigen Zeiten. Für viele bietet die Musik auch die ersehnte sinnvolle Freizeitbeschäftigung an langen Wochenenden", ist Seitz überzeugt. Für Patienten mit Abhängigkeitserkrankungen könne Musik und ein Instrument spielen einen sinnvollen Lebensinhalt und eine weitere wichtige Ressource auf dem Weg in eine zufriedene Abstinenz bedeuten.
"Es ist eine absolute Bereicherung"
„Mit Walter Seitz ist seit Gründung der psychosomatischen Fachklinik Münzesheim 2018 ein Vollblut-Musiker Teil unseres Teams, der es immer wieder schafft, Menschen zu ungeahnten Erfolgserlebnissen zu verhelfen. Seiner Begeisterung kann sich kaum jemand entziehen, und die Musiktherapie und die Beschäftigung mit einem Instrument verschafft vielen unserer Patientinnen und Patienten erlösende Momente“, unterstreicht Dr. Arne Zastrow, Oberarzt der psychosomatischen Fachklinik. Und weiter: "Es ist eine absolute Bereicherung unseres Klinikalltags, nun auch individualisiert an einzelne Instrumente heranführen zu können. Ganz nebenbei wird die Selbstwirksamkeitserwartung gestärkt, Erfolgserlebnisse stellen sich ein, manchmal ist auch Beharrlichkeit gefordert, die die Frustrationstoleranz auf die Probe stellt."
Viele Ideen im Kopf
Am Ende profitierten alle, da sich auch Mitpatienten durch das positive Beispiel angespornt fühlten, Neues zu wagen. Und Initiator Walter Seitz denkt schon jetzt darüber nach, wie das Projekt weiter ausgebaut werden könnte: „Wir möchten das Angebot um weitere Instrumente wie E-Gitarre und E-Bass erweitern. Zudem können wir uns vorstellen, musiktherapeutische Ansätze wie das Singen heilsamer Lieder oder Mentaltraining mit Musikinstrument in den Unterricht zu integrieren“. Dabei stehe die Musiktherapie nicht einzeln, sondern sei koppelbar mit kreativen Ansätzen wie der ausdruckszentrierten Ergotherapie oder auch der Bewegungstherapie. "Bodypercussion könnte da zum Beispiel künftig beide Felder im Dienste einer psychischen Stabilisierung verbinden."
Autor:Christian Schweizer aus Bretten |
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